Rezension zu »Il metodo Catalanotti« von Andrea Camilleri

Il metodo Catalanotti

von


Ein ambitionierter Theaterregisseur mit unkonventionellen Methoden wird ermordet. Auf einen jungen Mann wird geschossen, aber er weiß nichts davon. Für den Kommissar brechen Welten zusammen.
Kriminalroman · Teil der Serie »Il commissario Montalbano« · Sellerio · · 293 S. · ISBN 9788838937965
Sprache: it · Herkunft: it

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Rezension vom 10.07.2018 · 3 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Niemals zuvor hat Andrea Camilleri seinen legendären commissario derart demaskiert wie in diesem, dem sechs­undzwan­zigsten Krimi der Reihe [› Übersicht]. Dass Salvo Montalbano mit dem Älter­werden hadert, zog sich als roter Faden schon durch die letzten Bände, blieb aber begrenzt auf ein paar schnoddrige Bemer­kungen, selbstmit­leidige Grübeleien und Albträume. Jetzt aber wird es ernst.

Salvo fällt einem massiven Ausbruch von Alterstorheit zum Opfer. In Versuchung hat ihn sein Schöpfer ja schon verschie­dent­lich geführt – wir erinnern uns an hinreißende Frauen wie Angelica [› Rezension] oder die Galeristin Marian [› Rezension] –, aber bei jenen Affären blieb er einiger­maßen beherrscht, hatte seine Emotionen, Skrupel und Taten unter Kontrolle, und das Schicksal sorgte für Klarheit. Nun verfolgen wir erst amüsiert, dann fassungs­los, wie der fast Sechzig­jährige der jungen Chefin der Spuren­siche­rung ungebremst verfällt wie ein puber­tärer Jüngling, bis diese sehr moderne, sehr selbst­ständige, sehr eigenwil­lige Frau ihn seiner Illusionen beraubt und mit schmerz­hafter Selbst­erkennt­nis zurück­lässt.

Das tragikomische Abenteuer geht zu Salvos Pech einher mit Livias Stunde der Wahrheit. Aus gegebenem Anlass tut und spricht sie aus, was man längst erwarten durfte. Wer lässt sich schon jahre­lang mit Phrasen wie »Mi devi scusare Livia, ma qui da me ci sono Fazio e Augello, stiamo discutendo di un caso molto complicato« vertrösten? Welches Paar begnügt sich mit ein paar Wochenend­besuchen im Jahr, verbunden mit Zwölf­hun­dert-Kilo­meter-Flügen? Endlich hält Livia ihrem fernen »Verlobten« einmal mit un­geschön­ter Drastik vor Augen, was sie selbst empfindet und zu welcher Verant­wor­tung er sich bekennen muss.

Selten zuvor hat der Autor so ergreifend und schonungs­los das Seelen­leben seiner Protago­nisten offen­gelegt – vergleich­bar sind in meiner Erinnerung nur die Szenen um das kleine Flücht­lings­kind François (in »Il ladro di meren­dine | Der Dieb der süßen Dinge«) und dessen tragischen Tod als junger Erwach­sener (in »Una lama di luce | Die Spur des Lichts« [› Rezension]. Jetzt aber ist Salvo wie nie zuvor gezwungen, sich Klarheit darüber zu verschaffen, was Liebe bedeutet und welche Entschei­dungen daraus resul­tieren sollten. Das Leben wird härter werden für ihn.

Ebenso beachtlich wie die Szenen aus dem Privat­leben des Kommis­sars sind in diesem Band die beiden Kriminal­fälle, die er zu lösen hat. Sie werden jeden Fan action­reicher Thriller gähnen lassen (ein Toter und ein Schuss, das ist alles an Knallern), haben aber Tiefgang in diversen Dimen­sionen. Wie üblich beginnt die Spannungs­kurve im Null­punkt und steigt dann für Leser, die sich darauf einlassen, beachtlich an. Allerlei unterhalt­same Rätsel laden zum beständi­gen Mitdenken ein, bis auf den letzten Seiten alle Geheim­nisse aufgelöst werden. Das letzte Viertel möchte man am Stück verschlingen.

Der ›kleinere‹ Fall ist von dem Typ, der vor über zwei Jahr­zehn­ten die beson­dere Wertschät­zung des siziliani­schen commis­sario begrün­dete (siehe etwa die frühe Erzäh­lung »Il compagno di viaggio | Der Reise­gefährte«). Er versteht sich nicht als Verwalter staat­licher Gesetze, sondern mensch­licher Gerechtig­keit verpflichtet, und dabei liegen ihm die ›kleinen Leute‹ ganz besonders am Herzen. Um Schwachen, Benach­teilig­ten, Unter­drück­ten aus der Patsche und zu ihrem Recht zu verhelfen und die Starken und Arro­gan­ten zur Besinnung zu bringen und in ihre Schranken zu weisen, biegt er, wenn nötig, die Gesetze auf haar­sträu­bende Weise. Käme ihm jemals ein Vor­gesetz­ter auf die Schliche, müsste er den Kollegen M. sofort und zu Recht feuern. Wir Leser aber schmunzeln, verstehen und freuen uns über die gut­mütige Dreistig­keit.

Das Thema des ›großen‹ Falls, der den Titel gibt (und dabei mit der Tradition des Vier-Wort-Titels bricht!), muss hingegen direkt Camilleris Herz ent­sprun­gen sein. Der war ja zeit seines Lebens ein Theater- und Fernseh­mensch, bis der Siebzig­jährige 1994 mit »La forma dell’acqua | Die Form des Wassers« seinen großen Durch­bruch als Krimi-Autor erlebte. Carmelo Catala­notti, das Mord­opfer, ist ein ent­fernter Berufs­kollege von ihm. Der Fünfzig­jährige ist so wohl­habend, dass er nicht zu arbeiten braucht und selbst fünf­stellige Beträge leicht­hin verleihen kann. Er ist also ganz frei für seine Leiden­schaft, das Theater. Mit einer kleinen Truppe ebenso ambitio­nierter Amateure inszeniert er ›klassische‹ Dramen des 20. Jahrhun­derts und hat als nächstes »Svolta perico­losa« (»Gefähr­liche Kurve« | »Dange­rous Corner«) von J. B. Priestley (1932) auf den Spiel­plan gesetzt.

Viel Sorgfalt wendet Camilleri auf, um »il metodo Catala­notti« zu erläutern: die Strategie, mit der der Regisseur seine Rollen vergibt. Er unter­zieht jede Person, die ihm als vielleicht geeignet erscheint (und das können auch wild­fremde ›Zufalls­funde‹ sein) einem höchst individuell zuge­schnitte­nen Prozess, der darauf zielt, den Menschen vollständig von sich selbst zu lösen und mit der Figur des Dramas zu konfron­tieren. Catala­notti bricht seine Bewerber also sozu­sagen, um sie vollstän­dig mit ihrer Rolle zu ver­schmel­zen. (Camilleri lässt eine Roman­figur auf den polnischen Theater­theore­tiker Jerzy Gro­towski (1933-1999) und die expe­rimen­telle katala­nische Theater­gruppe »Fura dels Baus« verweisen.)

Beliebt macht sich Catalanotti mit seinem radikalen Vorgehen nicht. Manche Bewerber stößt er mit seinen extrava­ganten »Prüfungen« voran bis an die Grenzen des ihnen Erträg­lichen, manche darüber hinaus. Das ist der Preis, den sie bezahlen müssen, um an seinen hoch­fliegen­den Kunst­projek­ten teil­haben zu dürfen. Skrupel, was seine Methode bei den Bewerbe­rinnen und Bewer­bern auslöst, kennt der Meister nicht. (Entfernt ist man an den Skandal um promi­nente Film-Granden in Holly­wood und anderswo erinnert.)

Im übrigen bedient sich Camilleri aus seinem Katalog bewährter Charak­tere und Textbau­steine, die seine Leser (und Fernseh­film-Zuschauer) lieben und erwar­ten. Die Handlung schreitet gemäch­lich und klein­schrit­tig voran, Salvo duscht, verschlingt Unmengen von Enzos und Adelinas Köstlich­keiten, trinkt Kaffee, macht seinen Verdauungs­spazier­gang, man trifft sich im Kommis­sariat, inter­viewt Betroffene, Catarella verdreht Namen und Sprache und fällt mit der Tür ins Büro, Fazio hört aufmerk­sam zu und hat schon alles erledigt, und Mimì Augello kennt alle Frauen von Vigáta und Umgebung aus persön­licher Anschau­ung.

Hin und wieder geben indivi­duelle Schick­sale dem Protago­nisten Anlass für ein paar gesell­schafts­kriti­sche Phrasen (»Avrebbiro continuato a diri NO a ogni cosa, nella spranza di arrinesciri accussì ad ottiniri il potiri per po’ finiri come a tutti l’autri.«), ohne dass die großen Probleme unserer Zeit im Mindesten konkre­tisiert, geschweige denn disku­tiert würden. Ich finde das inzwischen zu unent­schie­den und schwach, während Horden von Nationa­listen, Popu­listen und Lügnern die öffent­liche Diskussion lautstark zu beherr­schen scheinen (auch in Vigàta?). Salvo Montal­bano wird nicht nur in Italien als morali­sche Instanz und für seinen gesunden Menschen­verstand geschätzt; es ist an der Zeit, dass er in größe­rem Rahmen Stellung bezieht, seine Stimme ohne Wenn und Aber zugunsten der Vertreter von Vernunft und Anstand erhebt, etwa als siziliani­scher Euro­päer. Dafür genügen wenige Sätze. Sie würden große Beachtung finden.

Nach etlichen eher durchschnittlichen Montalbano-Romanen ist dies endlich einmal wieder Krimi-Kost von wahrhaft Camilleri­scher Klasse. Der Autor, der Anfang September sein dreiund­neunzigs­tes Lebensjahr vollenden wird, ist inzwischen erblindet und hat den Roman (wie bereits »La rete di protezione« [› Rezension]) deshalb seiner langjäh­rigen Assis­tentin Valentina Alferj diktiert.


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