Il metodo Catalanotti
von Andrea Camilleri
Ein ambitionierter Theaterregisseur mit unkonventionellen Methoden wird ermordet. Auf einen jungen Mann wird geschossen, aber er weiß nichts davon. Für den Kommissar brechen Welten zusammen.
Lieben Sie Priestley?
Niemals zuvor hat Andrea Camilleri seinen legendären commissario derart demaskiert wie in diesem, dem sechsundzwanzigsten Krimi der Reihe [› Übersicht]. Dass Salvo Montalbano mit dem Älterwerden hadert, zog sich als roter Faden schon durch die letzten Bände, blieb aber begrenzt auf ein paar schnoddrige Bemerkungen, selbstmitleidige Grübeleien und Albträume. Jetzt aber wird es ernst.
Salvo fällt einem massiven Ausbruch von Alterstorheit zum Opfer. In Versuchung hat ihn sein Schöpfer ja schon verschiedentlich geführt – wir erinnern uns an hinreißende Frauen wie Angelica [› Rezension] oder die Galeristin Marian [› Rezension] –, aber bei jenen Affären blieb er einigermaßen beherrscht, hatte seine Emotionen, Skrupel und Taten unter Kontrolle, und das Schicksal sorgte für Klarheit. Nun verfolgen wir erst amüsiert, dann fassungslos, wie der fast Sechzigjährige der jungen Chefin der Spurensicherung ungebremst verfällt wie ein pubertärer Jüngling, bis diese sehr moderne, sehr selbstständige, sehr eigenwillige Frau ihn seiner Illusionen beraubt und mit schmerzhafter Selbsterkenntnis zurücklässt.
Das tragikomische Abenteuer geht zu Salvos Pech einher mit Livias Stunde der Wahrheit. Aus gegebenem Anlass tut und spricht sie aus, was man längst erwarten durfte. Wer lässt sich schon jahrelang mit Phrasen wie »Mi devi scusare Livia, ma qui da me ci sono Fazio e Augello, stiamo discutendo di un caso molto complicato« vertrösten? Welches Paar begnügt sich mit ein paar Wochenendbesuchen im Jahr, verbunden mit Zwölfhundert-Kilometer-Flügen? Endlich hält Livia ihrem fernen »Verlobten« einmal mit ungeschönter Drastik vor Augen, was sie selbst empfindet und zu welcher Verantwortung er sich bekennen muss.
Selten zuvor hat der Autor so ergreifend und schonungslos das Seelenleben seiner Protagonisten offengelegt – vergleichbar sind in meiner Erinnerung nur die Szenen um das kleine Flüchtlingskind François (in »Il ladro di merendine | Der Dieb der süßen Dinge«) und dessen tragischen Tod als junger Erwachsener (in »Una lama di luce | Die Spur des Lichts« [› Rezension]. Jetzt aber ist Salvo wie nie zuvor gezwungen, sich Klarheit darüber zu verschaffen, was Liebe bedeutet und welche Entscheidungen daraus resultieren sollten. Das Leben wird härter werden für ihn.
Ebenso beachtlich wie die Szenen aus dem Privatleben des Kommissars sind in diesem Band die beiden Kriminalfälle, die er zu lösen hat. Sie werden jeden Fan actionreicher Thriller gähnen lassen (ein Toter und ein Schuss, das ist alles an Knallern), haben aber Tiefgang in diversen Dimensionen. Wie üblich beginnt die Spannungskurve im Nullpunkt und steigt dann für Leser, die sich darauf einlassen, beachtlich an. Allerlei unterhaltsame Rätsel laden zum beständigen Mitdenken ein, bis auf den letzten Seiten alle Geheimnisse aufgelöst werden. Das letzte Viertel möchte man am Stück verschlingen.
Der ›kleinere‹ Fall ist von dem Typ, der vor über zwei Jahrzehnten die besondere Wertschätzung des sizilianischen commissario begründete (siehe etwa die frühe Erzählung »Il compagno di viaggio | Der Reisegefährte«). Er versteht sich nicht als Verwalter staatlicher Gesetze, sondern menschlicher Gerechtigkeit verpflichtet, und dabei liegen ihm die ›kleinen Leute‹ ganz besonders am Herzen. Um Schwachen, Benachteiligten, Unterdrückten aus der Patsche und zu ihrem Recht zu verhelfen und die Starken und Arroganten zur Besinnung zu bringen und in ihre Schranken zu weisen, biegt er, wenn nötig, die Gesetze auf haarsträubende Weise. Käme ihm jemals ein Vorgesetzter auf die Schliche, müsste er den Kollegen M. sofort und zu Recht feuern. Wir Leser aber schmunzeln, verstehen und freuen uns über die gutmütige Dreistigkeit.
Das Thema des ›großen‹ Falls, der den Titel gibt (und dabei mit der Tradition des Vier-Wort-Titels bricht!), muss hingegen direkt Camilleris Herz entsprungen sein. Der war ja zeit seines Lebens ein Theater- und Fernsehmensch, bis der Siebzigjährige 1994 mit »La forma dell’acqua | Die Form des Wassers« seinen großen Durchbruch als Krimi-Autor erlebte. Carmelo Catalanotti, das Mordopfer, ist ein entfernter Berufskollege von ihm. Der Fünfzigjährige ist so wohlhabend, dass er nicht zu arbeiten braucht und selbst fünfstellige Beträge leichthin verleihen kann. Er ist also ganz frei für seine Leidenschaft, das Theater. Mit einer kleinen Truppe ebenso ambitionierter Amateure inszeniert er ›klassische‹ Dramen des 20. Jahrhunderts und hat als nächstes »Svolta pericolosa« (»Gefährliche Kurve« | »Dangerous Corner«) von J. B. Priestley (1932) auf den Spielplan gesetzt.
Viel Sorgfalt wendet Camilleri auf, um »il metodo Catalanotti« zu erläutern: die Strategie, mit der der Regisseur seine Rollen vergibt. Er unterzieht jede Person, die ihm als vielleicht geeignet erscheint (und das können auch wildfremde ›Zufallsfunde‹ sein) einem höchst individuell zugeschnittenen Prozess, der darauf zielt, den Menschen vollständig von sich selbst zu lösen und mit der Figur des Dramas zu konfrontieren. Catalanotti bricht seine Bewerber also sozusagen, um sie vollständig mit ihrer Rolle zu verschmelzen. (Camilleri lässt eine Romanfigur auf den polnischen Theatertheoretiker Jerzy Grotowski (1933-1999) und die experimentelle katalanische Theatergruppe »Fura dels Baus« verweisen.)
Beliebt macht sich Catalanotti mit seinem radikalen Vorgehen nicht. Manche Bewerber stößt er mit seinen extravaganten »Prüfungen« voran bis an die Grenzen des ihnen Erträglichen, manche darüber hinaus. Das ist der Preis, den sie bezahlen müssen, um an seinen hochfliegenden Kunstprojekten teilhaben zu dürfen. Skrupel, was seine Methode bei den Bewerberinnen und Bewerbern auslöst, kennt der Meister nicht. (Entfernt ist man an den Skandal um prominente Film-Granden in Hollywood und anderswo erinnert.)
Im übrigen bedient sich Camilleri aus seinem Katalog bewährter Charaktere und Textbausteine, die seine Leser (und Fernsehfilm-Zuschauer) lieben und erwarten. Die Handlung schreitet gemächlich und kleinschrittig voran, Salvo duscht, verschlingt Unmengen von Enzos und Adelinas Köstlichkeiten, trinkt Kaffee, macht seinen Verdauungsspaziergang, man trifft sich im Kommissariat, interviewt Betroffene, Catarella verdreht Namen und Sprache und fällt mit der Tür ins Büro, Fazio hört aufmerksam zu und hat schon alles erledigt, und Mimì Augello kennt alle Frauen von Vigáta und Umgebung aus persönlicher Anschauung.
Hin und wieder geben individuelle Schicksale dem Protagonisten Anlass für ein paar gesellschaftskritische Phrasen (»Avrebbiro continuato a diri NO a ogni cosa, nella spranza di arrinesciri accussì ad ottiniri il potiri per po’ finiri come a tutti l’autri.«), ohne dass die großen Probleme unserer Zeit im Mindesten konkretisiert, geschweige denn diskutiert würden. Ich finde das inzwischen zu unentschieden und schwach, während Horden von Nationalisten, Populisten und Lügnern die öffentliche Diskussion lautstark zu beherrschen scheinen (auch in Vigàta?). Salvo Montalbano wird nicht nur in Italien als moralische Instanz und für seinen gesunden Menschenverstand geschätzt; es ist an der Zeit, dass er in größerem Rahmen Stellung bezieht, seine Stimme ohne Wenn und Aber zugunsten der Vertreter von Vernunft und Anstand erhebt, etwa als sizilianischer Europäer. Dafür genügen wenige Sätze. Sie würden große Beachtung finden.
Nach etlichen eher durchschnittlichen Montalbano-Romanen ist dies endlich einmal wieder Krimi-Kost von wahrhaft Camillerischer Klasse. Der Autor, der Anfang September sein dreiundneunzigstes Lebensjahr vollenden wird, ist inzwischen erblindet und hat den Roman (wie bereits »La rete di protezione« [› Rezension]) deshalb seiner langjährigen Assistentin Valentina Alferj diktiert.