
Strafe
von Ferdinand von Schirach
Von Schirachs Geschichten führen uns in Jammertäler menschlicher Existenz, wo sich Tragödien abspielen, Einsamkeit, Leid und Verzweiflung herrschen, skrupellose Verbrechen begangen werden und dennoch keine einfachen Urteile gefällt werden können.
Die Ränder des Rechts
Verbrechen, Schuld und Strafe sind die Titel der drei Erzählbände, die Ferdinand von Schirach, als Jurist ebenso renommiert wie als Schriftsteller – seit 2009 veröffentlicht hat. Es sind drei Kernbegriffe, mit denen sich menschliche Gesellschaften auseinandersetzen, seit sie ihr Zusammenleben in geregelter Weise organisieren wollen. Dabei geht es seit jeher um Gerechtigkeit, gesichert durch ein verlässliches Rechtssystem, das dem Einzelnen zu seinem Recht verhilft und die Tat dessen, der Recht bricht, nach Regeln sanktioniert. In der Normierung der Rechtsprechung haben sich nach Funktion getrennte Rollen bewährt: Ankläger, Verteidiger und Richter (plus Schöffen oder Geschworene).
Soweit die einfache Ausgangskonstellation. Solange man nicht so genau hinschaut, bleibt die Sache auch einfach: Wer erwischt wird, ist schuldig, wer betrogen hat, dem muss man sein Vermögen wegnehmen, wer gemordet hat, den muss man bis zu seinem Lebensende wegsperren. Von Schirach aber nimmt sich die Freiheit, Konfigurationen auszuwählen, bei denen die gängigen Kategorien versagen, die Grenzen der Begriffe verschwimmen, jede Gewissheit ins Wanken gerät, das Grundvertrauen, dass das Rechtssystem Gerechtigkeit schaffen könne, unterminiert wird. Seine Fälle erschüttern umso mehr, als sie nicht zum Zwecke erfunden, sondern authentisch sind und weil sie, oberflächlich betrachtet, eine schnelle und simple Beurteilung suggerieren, die dann jedoch immer fragwürdiger wird, bis nur noch Ratlosigkeit bleibt.
Nehmen wir die Verhandlung über einen gewalttätigen Ehemann, schon mehrfach auf Bewährung verurteilt. Nun hat er erneut zugeschlagen, wütend einen Grill umgetreten, dabei das Bein seiner Frau versengt. Wie teilnahmslos berichtet die Ehefrau von ihrem langen Martyrium, in das sie sich widerstandslos gefügt zu haben scheint. Ihre Darstellung rührt die Schöffin, die selbst in ihrer Ehe enttäuscht wurde und sich deswegen mit dem Opfer identifiziert, zu Tränen. Eben dieser Kontrollverlust aber belegt ihre Befangenheit. Folglich platzt der Prozess, der Haftbefehl wird aufgehoben, der Ehemann auf freien Fuß gesetzt. Die Folgen sind für alle Betroffenen katastrophal. Täter und Opfer sind hier leicht zu unterscheiden, aber unvermutet ist ein weiteres Opfer zu beklagen, und die Schuldfrage weitet sich aus – auf die Rechtsordnung selbst.
In einem anderen Fall sind Opfer- und Täterschaft komplex verquickt, und sich verändernde Moralauffassungen kommen ins Spiel. Seit ihn seine Ehefrau verlassen hat, leidet Herr Meyerbeck entsetzlich unter Einsamkeit und unerfüllten Sehnsüchten. Doch dann findet er eine neue Partnerin, die er hegt und pflegt und mit der er eine »dauerhaft glückliche Beziehung« führt. Allerdings nimmt der Nachbar Anstoß daran, denn die »Dame« ist eine lebensechte Plastikpuppe mit allem Drum und Dran. Das unnatürliche Treiben erzürnt ihn derart, dass er die Kunststoff-Galatea an ihren empfindlichsten Stellen brutal durchlöchert und zerstört. Die Schändung seiner Herzliebsten, der er sogar den Namen seiner Ehefrau verliehen hatte, lässt nun wiederum Herrn Meyerbeck zum Gegenschlag ausholen. Im nachfolgenden Prozess erläutert ein Psychiater die Jahrtausende alte Historie der Agalmatophilie, der Liebe zu Statuen und Puppen.
Wo endet Normalität, wo fängt Perversion an? Sexualpraktiken eröffnen ein weites Feld zwischen Komik, Skurrilität und Tragik. Ein Familienvater hat Gepflogenheiten angenommen, die unzweifelhaft erschrecken und abstoßen können. Er zwängt sich in seinen Taucheranzug, beklebt ihn vollständig mit Scheiblettenkäsestückchen, windet ein Seil fest um seinen Hals und setzt sich in die Badewanne. Das Arrangement, aus einem traumatischen Erlebnis geboren, und die Tatsache, dass seine Frau ihm zuschauen muss, steigern seine sexuelle Lust. Als er stranguliert aufgefunden wird, wird die Ehefrau angeklagt, ihn ermordet zu haben. Ob die Indizien ihr einen Mord nachweisen können oder nicht, ist eine Frage – eine andere ist, was sie so weit getrieben haben könnte.
Zwei der zwölf Erzählungen widmet von Schirach der besonders schwierigen Rolle des Verteidigers. Wie der Staatsanwalt konsequent die Schuld des Angeklagten nachzuweisen versucht, muss der Verteidiger ohne Einschränkungen an dessen Unschuld festhalten. Allein dem Richter fällt die verantwortungsvolle Entscheidung zu, nach welcher Seite die Waage der Gerechtigkeit ausschlägt. Wie kann ein Mensch die Aufgabe völliger Entselbstung seelisch und moralisch bewältigen, wenn Gefühl und Verstand ihm permanent vor Augen halten, dass ein Angeklagter eindeutig schuldig oder unschuldig ist, er aber gezwungen ist, das Gegenteil nachzuweisen?
Diesem Druck hält Seyma gleich bei ihrem ersten Verfahren nicht stand. Sie hat ein hohes Mitglied der russischen Mafia zu verteidigen, einen verrohten Mädchenhändler. Auf Grund der Aussage einer jungen Frau, vom Angeklagten und seine Mittätern auf grausamste Weise zur Prostitution gezwungen und misshandelt, wird ihr Mandant zu einer hohen Haftstrafe verurteilt. Seyma legt Revision ein und entdeckt nach intensiver Recherche einen Verfahrensfehler. Nun muss der Fall in einer anderen Strafkammer erneut behandelt werden. Doch die Hauptbelastungszeugin erscheint zu diesem Prozess nicht mehr. Sie ist spurlos verschwunden – »getötet und auf den Müll geworfen«, wie ein anonymer Informant behauptet. Infolgedessen wird der Angeklagte freigelassen.
Als Verteidigerin hat Seyma ihre Pflicht getan, wie es das Gesetz befiehlt, und sogar meisterhaft. Als Mensch bekennt sie ihrem Chef: »Ich habe es mir anders vorgestellt.«
Die Geschichte, die den Erzählband (und die Trilogie) abschließt, ist die persönlichste, die einzige aus der Ich-Perspektive. Sie erklärt, was den Autor zum Schreiben brachte. In langen Berufsjahren hatte er viele verzweifelte Menschen erlebt. Doch das Schicksal seines besten Schulfreundes erschütterte ihn mehr als alle anderen. Auch der war leistungsstark und hatte eine vielversprechende Karriere angetreten, nun begegnet von Schirach einem von Alkohol und Drogen gezeichneten, zurückgezogen lebenden Wrack. Dass seine geliebte Ehefrau Opfer eines bestialischen Verbrechens wurde, hat dem Leben dieses Mannes jeden Sinn genommen. Wenige Tage nach dem traurigen Wiedersehen nimmt sich der verzweifelte Freund das Leben.
Kurze Zeit später beginnt Ferdinand von Schirach mit dem Schreiben, um von den Menschen zu erzählen, die er verteidigt hat, von ihrer »Einsamkeit«, ihrer »Fremdheit«, ihrem »Erschrecken über sich selbst«, und auch vom »gewaltsamen Tod«, »wie er aussieht, wie er riecht und welche Leere er hinterlässt«. Wenngleich wir dank medialer Überfütterung das Gefühl haben, von Tod und Verbrechen umringt zu sein, kennen wir derlei selten aus eigenem Erleben.
Einer der Schlüssel zum riesigen Erfolg von Ferdinand von Schirachs Erzählbänden ist sein ruhiger, distanzierter Stil. Knapp und bündig referiert er fast protokollarisch die Fakten und Vorgänge, ohne zu psychologisieren, zu philosophieren, zu werten. Perspektivwechsel erlauben dem Leser, die Fälle von mehreren Seiten zu betrachten. Einzig die inneren Monologe einzelner Figuren geben Einblick in seelische Abgründe, selbst die meist nur angedeutet.
Von Schirachs Geschichten führen uns in Jammertäler menschlicher Existenz, wo sich Tragödien abspielen, Einsamkeit, Leid und Verzweiflung herrschen, skrupellose Verbrechen begangen werden und dennoch keine einfachen Urteile gefällt werden können. Mit dem Alltag haben sie nur bedingt zu tun – es sind teils extreme Ausnahmesituationen und Grenzüberschreitungen, die der Autor für seine Intentionen aufbereitet.