Rezension zu »Strafe« von Ferdinand von Schirach

Strafe

von


Von Schirachs Geschichten führen uns in Jammertäler menschlicher Existenz, wo sich Tragödien abspielen, Einsamkeit, Leid und Verzweiflung herrschen, skrupellose Verbrechen begangen werden und dennoch keine einfachen Urteile gefällt werden können.
Kriminalgeschichten · Luchterhand · · 192 S. · ISBN 9783630875385
Sprache: de · Herkunft: de

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Die Ränder des Rechts

Rezension vom 21.04.2018 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Verbrechen, Schuld und Strafe sind die Titel der drei Erzählbände, die Ferdinand von Schirach, als Jurist ebenso renommiert wie als Schrift­steller – seit 2009 veröffent­licht hat. Es sind drei Kernbe­griffe, mit denen sich menschliche Gesellschaften aus­einander­setzen, seit sie ihr Zusammen­leben in geregelter Weise organi­sieren wollen. Dabei geht es seit jeher um Gerechtig­keit, gesichert durch ein verläss­liches Rechts­system, das dem Einzelnen zu seinem Recht verhilft und die Tat dessen, der Recht bricht, nach Regeln sanktioniert. In der Normierung der Recht­sprechung haben sich nach Funktion getrennte Rollen bewährt: Ankläger, Verteidiger und Richter (plus Schöffen oder Geschwo­rene).

Soweit die einfache Ausgangskonstellation. Solange man nicht so genau hinschaut, bleibt die Sache auch einfach: Wer erwischt wird, ist schuldig, wer betrogen hat, dem muss man sein Vermögen wegneh­men, wer gemor­det hat, den muss man bis zu seinem Lebens­ende wegsperren. Von Schirach aber nimmt sich die Freiheit, Kon­figura­tionen auszu­wählen, bei denen die gängigen Kategorien versagen, die Grenzen der Begriffe verschwim­men, jede Gewissheit ins Wanken gerät, das Grundver­trauen, dass das Rechts­system Gerechtig­keit schaffen könne, untermi­niert wird. Seine Fälle erschüt­tern umso mehr, als sie nicht zum Zwecke erfunden, sondern authen­tisch sind und weil sie, oberfläch­lich betrachtet, eine schnelle und simple Beurtei­lung suggerieren, die dann jedoch immer fragwür­diger wird, bis nur noch Ratlosig­keit bleibt.

Nehmen wir die Verhandlung über einen gewalttätigen Ehemann, schon mehrfach auf Bewährung verurteilt. Nun hat er erneut zuge­schlagen, wütend einen Grill umgetreten, dabei das Bein seiner Frau versengt. Wie teilnahms­los berichtet die Ehefrau von ihrem langen Martyrium, in das sie sich wider­stands­los gefügt zu haben scheint. Ihre Darstel­lung rührt die Schöffin, die selbst in ihrer Ehe enttäuscht wurde und sich deswegen mit dem Opfer identi­fiziert, zu Tränen. Eben dieser Kontroll­verlust aber belegt ihre Befangen­heit. Folglich platzt der Prozess, der Haftbefehl wird aufgehoben, der Ehemann auf freien Fuß gesetzt. Die Folgen sind für alle Betroffenen katastrophal. Täter und Opfer sind hier leicht zu unter­scheiden, aber unvermutet ist ein weiteres Opfer zu beklagen, und die Schuld­frage weitet sich aus – auf die Rechtsord­nung selbst.

In einem anderen Fall sind Opfer- und Täterschaft komplex verquickt, und sich verändernde Moral­auffassun­gen kommen ins Spiel. Seit ihn seine Ehefrau verlassen hat, leidet Herr Meyer­beck entsetzlich unter Einsam­keit und unerfüll­ten Sehnsüch­ten. Doch dann findet er eine neue Partnerin, die er hegt und pflegt und mit der er eine »dauer­haft glückliche Bezie­hung« führt. Allerdings nimmt der Nachbar Anstoß daran, denn die »Dame« ist eine lebensechte Plastik­puppe mit allem Drum und Dran. Das unnatür­liche Treiben erzürnt ihn derart, dass er die Kunst­stoff-Galatea an ihren empfind­lichsten Stellen brutal durchlöchert und zerstört. Die Schändung seiner Herz­liebsten, der er sogar den Namen seiner Ehefrau verliehen hatte, lässt nun wiederum Herrn Meyer­beck zum Gegen­schlag ausholen. Im nachfol­genden Prozess erläutert ein Psychiater die Jahrtausende alte Historie der Agalmato­philie, der Liebe zu Statuen und Puppen.

Wo endet Normalität, wo fängt Perversion an? Sexualpraktiken eröffnen ein weites Feld zwischen Komik, Skurrilität und Tragik. Ein Familien­vater hat Gepflogen­heiten angenom­men, die unzweifel­haft erschrecken und abstoßen können. Er zwängt sich in seinen Taucher­anzug, beklebt ihn vollstän­dig mit Scheib­letten­käse­stück­chen, windet ein Seil fest um seinen Hals und setzt sich in die Bade­wanne. Das Arrange­ment, aus einem traumati­schen Erlebnis geboren, und die Tatsache, dass seine Frau ihm zuschauen muss, steigern seine sexuelle Lust. Als er strangu­liert aufgefun­den wird, wird die Ehefrau angeklagt, ihn ermordet zu haben. Ob die Indizien ihr einen Mord nachwei­sen können oder nicht, ist eine Frage – eine andere ist, was sie so weit getrieben haben könnte.

Zwei der zwölf Erzählungen widmet von Schirach der besonders schwierigen Rolle des Verteidi­gers. Wie der Staatsan­walt konsequent die Schuld des Angeklag­ten nachzu­weisen versucht, muss der Verteidiger ohne Einschrän­kungen an dessen Unschuld festhalten. Allein dem Richter fällt die verantwor­tungs­volle Entschei­dung zu, nach welcher Seite die Waage der Gerechtig­keit ausschlägt. Wie kann ein Mensch die Aufgabe völliger Entselbs­tung seelisch und moralisch bewältigen, wenn Gefühl und Verstand ihm permanent vor Augen halten, dass ein Angeklag­ter eindeutig schuldig oder unschuldig ist, er aber gezwungen ist, das Gegenteil nachzuweisen?

Diesem Druck hält Seyma gleich bei ihrem ersten Verfahren nicht stand. Sie hat ein hohes Mitglied der russischen Mafia zu verteidi­gen, einen verrohten Mädchen­händler. Auf Grund der Aussage einer jungen Frau, vom Angeklag­ten und seine Mittätern auf grausamste Weise zur Prostitu­tion gezwungen und misshan­delt, wird ihr Mandant zu einer hohen Haftstrafe verurteilt. Seyma legt Revision ein und entdeckt nach intensiver Recherche einen Verfahrens­fehler. Nun muss der Fall in einer anderen Strafkam­mer erneut behandelt werden. Doch die Haupt­belastungs­zeugin erscheint zu diesem Prozess nicht mehr. Sie ist spurlos verschwun­den – »getötet und auf den Müll geworfen«, wie ein anonymer Informant behauptet. Infolge­dessen wird der Angeklagte freige­lassen.

Als Verteidigerin hat Seyma ihre Pflicht getan, wie es das Gesetz befiehlt, und sogar meister­haft. Als Mensch bekennt sie ihrem Chef: »Ich habe es mir anders vorgestellt.«

Die Geschichte, die den Erzählband (und die Trilogie) abschließt, ist die persönlichste, die einzige aus der Ich-Perspektive. Sie erklärt, was den Autor zum Schreiben brachte. In langen Berufs­jahren hatte er viele verzweifelte Menschen erlebt. Doch das Schicksal seines besten Schulfreun­des erschüt­terte ihn mehr als alle anderen. Auch der war leistungs­stark und hatte eine viel­verspre­chende Karriere angetreten, nun begegnet von Schirach einem von Alkohol und Drogen gezeichneten, zurückge­zogen lebenden Wrack. Dass seine geliebte Ehefrau Opfer eines bestiali­schen Verbrechens wurde, hat dem Leben dieses Mannes jeden Sinn genommen. Wenige Tage nach dem traurigen Wiedersehen nimmt sich der verzweifelte Freund das Leben.

Kurze Zeit später beginnt Ferdinand von Schirach mit dem Schreiben, um von den Menschen zu erzählen, die er vertei­digt hat, von ihrer »Einsam­keit«, ihrer »Fremdheit«, ihrem »Erschrecken über sich selbst«, und auch vom »gewalt­samen Tod«, »wie er aussieht, wie er riecht und welche Leere er hinter­lässt«. Wenn­gleich wir dank medialer Überfütte­rung das Gefühl haben, von Tod und Verbrechen umringt zu sein, kennen wir derlei selten aus eigenem Erleben.

Einer der Schlüssel zum riesigen Erfolg von Ferdinand von Schirachs Erzählbänden ist sein ruhiger, distanzierter Stil. Knapp und bündig referiert er fast proto­kolla­risch die Fakten und Vorgänge, ohne zu psychologi­sieren, zu philoso­phieren, zu werten. Perspektiv­wechsel erlauben dem Leser, die Fälle von mehreren Seiten zu betrachten. Einzig die inneren Monologe einzelner Figuren geben Einblick in seelische Abgründe, selbst die meist nur angedeutet.

Von Schirachs Geschichten führen uns in Jammertäler menschlicher Existenz, wo sich Tragödien abspielen, Einsam­keit, Leid und Verzweif­lung herrschen, skrupel­lose Verbrechen begangen werden und dennoch keine einfachen Urteile gefällt werden können. Mit dem Alltag haben sie nur bedingt zu tun – es sind teils extreme Ausnahme­situatio­nen und Grenz­überschrei­tungen, die der Autor für seine Intentio­nen aufbereitet.


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