Rezension zu »Nichts, um sein Haupt zu betten« von Françoise Frenkel

Nichts, um sein Haupt zu betten

von


Belletristik · Hanser · · Gebunden · 288 S. · ISBN 9783446252714
Sprache: de · Herkunft: fr

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Am seidenen Faden

Rezension vom 26.03.2017 · 3 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Aus den unsortierten Bücherkisten eines Trödelmarkts in Nizza fischte Michel Francesconi die Original­ausgabe einer Biografie, die 1945 gedruckt, kaum beachtet und vergessen worden war. Aber der Bücher­freund, selbst Autor und Illustrator, erkannte die Quali­täten seines Zufalls­fundes und initiierte eine Neu­aus­gabe. Sie erschien 2015 mit unver­ändertem Text und einem Vorwort des Literatur-Nobel­preis­trägers Patrick Modiano bei Galli­mard, Paris, und 2016 in der Über­setzung von Elisabeth Edl bei Hanser.

Zweierlei macht dieses Buch lesens­wert: Die literarisch gebildete Autorin schreibt in hoher stilis­tischer Qualität (die in der Über­setzung gut erhal­ten ist), und es über­zeugt durch die Authen­tizität einer direk­ten Zeit­zeugen­schaft, die trotz der Un­mittel­barkeit schreck­licher Erleb­nisse emotionale Distanz zu halten vermag.

Die Verfasserin wurde am 14. Juli 1889 in Piotrków (bei Lodz) als Frymeta Idesa Frenkel geboren. Schon ihre Kindheit erlebt sie als Reich voller Bücher. Die Eltern fördern ihre Lese­leiden­schaft und Krea­tivität, lassen ein Möbel­stück schreinern, das die sech­zehn­jährige Tochter selbst entworfen hat: ihre erste eigene Biblio­thek. Die Litera­tur wird auch ihr akade­misches Studien­fach an der Sor­bonne in Paris. Neben­bei arbeitet sie in der Biblio­thèque Nationale und sammelt praktische Erfah­rungen bei einem Buch­händler. Im pulsie­renden Treiben der Metro­pole scheint das Getöse des Welt­kriegs weit entfernt, hat nur »die allge­meine Fröh­lich­keit ein wenig gedämpft«.

In ihrer Heimat verschont das Kriegsgeschehen dagegen kaum jemanden. Bei ihrer Rück­kehr 1920 ist Françoise, wie sie inzwischen genannt wird, glücklich, ihre Angehörigen unver­sehrt wieder­zufin­den. Ent­setzt ist sie aller­dings über die kultur­banausi­schen russi­schen Besatzer, die im Haus gewütet und geplün­dert haben.

Geduldig, zäh und mutig realisiert die junge Frau ein kühnes innova­tives Projekt: eine Buch­handlung für franzö­sische Literatur in Berlin. Dazu muss sie büro­kratische Hürden über­winden, sich vorerst mit einem kleinen Laden im Zwischen­geschoss eines Privat­hauses begnügen, bis das »Maison du Livre« schließ­lich rasant reüssiert und in der Nähe des Touristen­magneten KaDeWe im mondänen Viertel der Passauer Straße eröffnet. Während sich das Interesse der Deutschen an rein franzö­sischer Literatur anfäng­lich noch in Grenzen hält, ent­decken Auslände­rinnen – Polen, Russen, Tschechen, Türken, Norweger, Schweden, Österreicher – das Juwel, wo unter anderem begehrte Mode­zeit­schrif­ten ausliegen.

Françoise erweitert ihre Buchhandlung zum Ort geistig-kultureller Begeg­nungen, indem sie Vorträge und Autoren­lesungen, begleitet von unterhalt­samen musika­lischen und schau­spiele­rischen Darbie­tungen, orga­ni­siert. Voller Optimis­mus hofft sie auf eine »mög­liche Ver­ständi­gung zwischen den Völkern«. Bald geht die intel­lektu­elle franko­phile Elite ein und aus – Claude Anet, Henri Barbusse, Julien Benda, Madame Colette, André Gide, Aristide Briand.

Der Politik aber will Françoise kein Podium bieten. Dabei bekommt auch sie schon die zuneh­mende Will­kür der zukünf­tigen Macht­haber in Deutsch­land zu spüren: Polizei­kontrol­len, Beschlag­nahme indizierter Bücher. Nach dem Erlass der Nürn­berger Rassen­gesetze (1935) wird das »Maison du Livre« unter dem Schutz der franzö­sischen Verlage zwar noch geduldet, aber die jüdische Eigen­tümerin erkennt die Zeichen der Zeit und beginnt ihr Geschäft aufzu­lösen.

Im August 1939 beginnt Françoise Frenkel ihre Flucht, zunächst nach Paris, dann der deutschen Beset­zung weichend nach Avignon, im Dezember 1940 nach Nizza. Da sich das Vichy-Regime mit der Verfol­gung und Ausliefe­rung von Juden als verlän­gerter Arm der Nazis in Paris erweist, gibt es auch hier keine Sicher­heit. Die Autorin berichtet von den Schick­salen vieler Gestran­deter, die unter­wegs ihr gesamtes Eigen­tum einge­setzt haben, um der Ent­deckung zu entgehen, durch korrupte Helfer ausge­saugt, durch franzö­sische Kollabo­rateure verraten wurden, Polizei­razzien zum Opfer fielen. Ist Françoise selbst stark genug, um sich gegen alle Gefahren zu retten? Als sie zufällig Zeugin wird, wie Juden in über­füllte Busse einge­pfercht und ab­trans­portiert werden, ist sie versucht auszu­rufen: »Nehmt mich mit, ich gehöre zu ihnen.« Doch dann fragt sie sich: »Wem würde dieses Opfer nützen? Was konnte es ändern? Wozu?«

Françoise hat Freunde in der Schweiz, die ihr Visa und Geld zukom­men lassen. Dennoch wird für sie kein Schlag­baum geöffnet. Dreimal versucht sie die gefähr­liche Grenz­über­querung, wird schließ­lich erwischt und fest­genom­men. Den Freunden hat sie es zu verdanken, dass sie aus dem Gefäng­nis freikommt, wieder­holt in vermeint­lich sicheren Verstecken kurz­zeitig unter­tauchen kann und im Juni 1943 endlich auf ille­gale Weise die Schweiz erreicht.

Beeindruckend, wie das Ehepaar Marius und viele andere »Menschen guten Willens« trotz stets drohender Repres­salien bis hin zur Inhaf­tierung un­einge­schränkt Hilfe leisten. »Hier sind Sie zu Hause, das heißt, bei guten Franzosen. Nichts wird ihnen zustoßen, solange wir die Herren hier sind. Was die Zukunft angeht und die Vergel­tung, darauf können Sie sich verlassen, so wahr ich Marius heiße!«

Nach ihrer Odyssee durch Frankreich im letzten Moment vor der sicheren Depor­tation in die Ver­nich­tungs­lager bewahrt, beginnt Françoise am Vier­wald­stätter See unter dem frischen Eindruck der letzten be­klem­menden Phase, voller Sorge um die Ange­höri­gen in Polen und voller Angst um die eigene Sicher­heit mit der Nieder­schrift ihrer Bio­grafie »Rien où poser sa tête« Françoise Frenkel: »Rien où poser sa tête« bei Amazon. Sie sieht sich in »der Pflicht der Über­lebenden, Zeugnis abzu­legen« für die, »die für immer ver­stummt sind, unter­wegs vor Erschöp­fung gestorben oder ermordet«. In ihren Vor­bemer­kungen widmet sie ihr Buch aber auch den »Menschen guten Willens«, die mit »uner­müdlicher Tapfer­keit« »ihren Willen der Gewalt entgegen­gestellt« haben.

Françoise Frenkels Autobiografie ist frei von rührseliger Larmoyanz, frei von Hass oder Groll gegen die Unter­drücker, die Kol­labora­teure, Xeno­phoben und Anti­semiten. So bizarr grausam und un­mensch­lich die Gescheh­nisse sind, ist doch sogar Raum für heitere Episoden, zum Beispiel als Françoise die gefälsch­ten Papiere einer siebzig­jähri­gen Französin erhält und auf dem Passbild als persön­liches Merkmal eine Warze am Kinn prangt. Wie soll Françoise, Mitte fünfzig, dieser Vorgabe gerecht werden?

Im Anhang ergänzen eine Zeittafel, ein Dossier mit Schwarz-Weiß-Doku­menten und Bemer­kungen zur deutschen Ausgabe dieses beein­drucken­de, so lange über­sehene Zeugnis aus dunklen, heute wieder gern ver­dräng­ten Zeiten.


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