Der (sehr) kleine Hamlet
Erst hat meine Mutter meinen Vater betrogen – ausgerechnet mit seinem Bruder. Und jetzt hecken die beiden auch noch einen Plan aus, um Papa umzubringen …
Das sind schmerzliche Einsichten und düstere Aussichten für ein Kind, vor allem für eines wie das Ich-Erzählerchen in Ian McEwans neuestem Roman »Nutshell« (übersetzt von Bernhard Robben). Neun Monate ist der Junge alt (seit seiner Zeugung wohlgemerkt!), noch namenlos, und er kann nur noch etwa zwei Wochen in seiner mollig warmen Schutzhöhle verharren, ehe er sich durch den Geburtskanal in unsere kalte Welt hinauszwängen muss. Ihn plagen gehörige Zweifel, ob er sich das wirklich antun soll. »Sein oder Nichtsein« – das ist die existentielle Frage, die der frühreife Embryo sich stellt.
Die Themenkonstellation von Untreue, Betrug, Brudermord und Sinnfrage und die Grundzüge der Handlung hat der großartige Erzähler Ian McEwan an ein Werk des großartigsten Dramatikers aller Zeiten angelehnt. Ein dem Roman vorangestelltes Zitat mit der titelgebenden Metapher verweist auf Shakespeares »Hamlet«, der kleine Protagonist bezeichnet sich als »zaudernder Narr, der ich bin«.
Rein biografisch ist der Winzling im Mutterleib »ein unbeschriebenes Blatt«, »noch nicht einmal jung … noch nicht einmal von gestern«. Aber er ist auch ein »freier Geist«, von keiner Weltanschauung beeinflusst, nichts und niemandem verpflichtet. Seine Moral ist integer, seine Intelligenz voll ausgebildet, seine Bildung allumfassend, sein Ausdrucksvermögen voller Esprit, seine Sinne (außer dem optischen) hellwach. So saugt das Bürschchen auf, beschreibt und kommentiert scharfsinnig, naseweis und mit Witz, was es wahrnimmt. Aufmerksam lauscht es den Gesprächen, der Musik, den Hörbüchern und anspruchsvollen Radiobeiträgen, die seine Mutter schätzt, und abends genießt es, ganz »Connaisseur« schon jetzt, »wie herrlich ein durch die Plazenta dekantierter Burgunder schmeckt«.
Auch wenn die Zeiten des Herumtollens und Purzelbaumschlagens vorbei sind, der kleine Körper jetzt feststeckt und manche Stöße seinem »brandneuen Schädel gefährlich nahe kommen«, könnte der Fötus es sich die verbleibenden paar Tage gut gehen lassen in seinem anregenden Habitat – würden seine engsten Bezugspersonen nicht »Schreckliches planen«, das ein moralisch intakter Geist nicht einfach hinnehmen kann.
Am nächsten steht dem Baby sein Erzeuger, John Cairncross. Doch der ist ein allzu gefälliger Typ, frei von jeder Gier, einer, der es jedem recht machen möchte, als Verlagsleiter ebenso erfolglos wie als Lyriker und zu allem Überfluss von schlimmer Psoriasis verunstaltet. Mama Trudy hat ihn vor die Tür gesetzt, weil sie sich eine Auszeit verschaffen will. Um seinen rechtmäßigen Platz zurückzuerobern, fehlt es dem stillen Poeten an Tatkraft und adäquaten Strategien. Die lyrischen Lobpreisungen von Trudys Lippen, Haaren und Augen (de facto keineswegs so grün wie »Galways Auen«) lassen die Besungene unberührt und gelangweilt, wie das Menschlein in ihrem Uterus an ihrem erschlaffenden Herzschlag und dem trägen Gurgeln ihrer Organe registriert.
Schon vor der ersten Wahrnehmung des kleinen Wesens war seine Mutter ihrem Schwager Claude leidenschaftlich verfallen. Nun hat sich der Liebhaber, Chef eines nicht sonderlich profitablen Bauunternehmens, fest bei ihr eingenistet. Doch der respektlose Beobachter aus der Innenwelt findet für ihn kein gutes Wort. Physisch ein »Prachtexemplar«, ist der Mann »ein Werkzeug zu grober Täuschung, der Trudy hinters Licht führt, während er zugleich mit ihr Pläne schmiedet«. Oder trifft eine andere Interpretation besser, was den »schwachköpfigen Tölpel« ausmacht? »Der Pudel hat keinen Kern, Claude ist als Verschwörer so ehrlich wie Trudy, nur dümmer.« Jedenfalls ist die Welt der beiden kalt, von Egoismus und Geldgier geprägt, was sie dazu antreibt, John zu vergiften.
Indem der Ungeborene die Planungen unfreiwillig mit anhören muss, erfährt er, dass es auch um seine eigene Zukunft nicht rosig bestellt ist. Die skrupellose Mama schwärmt von einem Leben zu zweit, »das Baby bringen wir irgendwo unter«. Ein Leben als Adoptivkind mit »Computerspielen statt Büchern, mit Zucker, Fett und körperlicher Gewalt«? Als »elender Dreijähriger mit Igelschnitt, Wampe und Tarnhose«? Der Vater getötet, die Mutter (wenn ihr Plan schief geht) lebenslang im Gefängnis? Die Frage um »Sein oder Nichtsein« treibt den kleinen Hamlet um. Soll er sich der Angst einflößenden Welt ohne Liebe, Rücksicht, Vernunft und Anstand nicht besser verweigern, den »stupiden Hofgang der Existenz« gar nicht erst antreten, einen Ausweg im »Kindstod« suchen? Das alles verspricht »kein gutes Ende« …
Ian McEwan beherrscht das anspruchsvolle Unterhaltungsgenre aufs Vorzüglichste. Spannend, faszinierend, elegant und geistreich meistert er den klassischen Plot und sein geniales literarisches Experiment. Einzigartig ist der irrwitzige Einfall, einen Embryo als Erzähler zu installieren, im Übrigen nicht. Schon Laurence Sterne (1713-1768), einer der Begründer des modernen Romans, realisierte das Konzept in seinem bahnbrechend bizarren Werk »Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman« (original: »The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman« ). Im Gegensatz zu McEwans Held darf Tristram immerhin das Licht der Welt erblicken. Und in Charles Lewinskys »Andersen« (fast gleichzeitig mit »Nutshell« erschienen) darf der Protagonist, eine Inkarnation des ewig Bösen, sogar mehrfach leben.