Rezension zu »Nussschale« von Ian McEwan

Nussschale

von


Belletristik · Diogenes · · Gebunden · 288 S. · ISBN 9783257069822
Sprache: de · Herkunft: gb

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Der (sehr) kleine Hamlet

Rezension vom 28.03.2017 · 4 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Erst hat meine Mutter meinen Vater betrogen – ausge­rechnet mit seinem Bruder. Und jetzt hecken die beiden auch noch einen Plan aus, um Papa umzu­bringen …

Das sind schmerzliche Einsichten und düstere Aussichten für ein Kind, vor allem für eines wie das Ich-Er­zähler­chen in Ian McEwans neues­tem Roman »Nutshell« Ian McEwan: »Nutshell« bei Amazon (über­setzt von Bernhard Robben). Neun Monate ist der Junge alt (seit seiner Zeugung wohl­gemerkt!), noch namen­los, und er kann nur noch etwa zwei Wochen in seiner mollig warmen Schutz­höhle verhar­ren, ehe er sich durch den Geburts­kanal in unsere kalte Welt hinaus­zwängen muss. Ihn plagen gehörige Zweifel, ob er sich das wirklich antun soll. »Sein oder Nicht­sein« – das ist die existen­tielle Frage, die der früh­reife Embryo sich stellt.

Die Themenkonstellation von Untreue, Betrug, Bruder­mord und Sinn­frage und die Grund­züge der Hand­lung hat der groß­artige Erzähler Ian McEwan an ein Werk des groß­artigs­ten Drama­tikers aller Zeiten ange­lehnt. Ein dem Roman voran­gestelltes Zitat mit der titel­geben­den Metapher verweist auf Shake­speares »Hamlet«, der kleine Prota­gonist bezeich­net sich als »zaudern­der Narr, der ich bin«.

Rein biografisch ist der Winzling im Mutterleib »ein un­beschrie­benes Blatt«, »noch nicht einmal jung … noch nicht einmal von gestern«. Aber er ist auch ein »freier Geist«, von keiner Welt­anschau­ung beein­flusst, nichts und nieman­dem verpflich­tet. Seine Moral ist integer, seine Intelli­genz voll ausge­bildet, seine Bildung allum­fassend, sein Ausdrucks­vermögen voller Esprit, seine Sinne (außer dem opti­schen) hellwach. So saugt das Bürsch­chen auf, beschreibt und kom­men­tiert scharf­sinnig, nase­weis und mit Witz, was es wahr­nimmt. Aufmerk­sam lauscht es den Gesprächen, der Musik, den Hör­büchern und an­spruchs­vollen Radio­bei­trägen, die seine Mutter schätzt, und abends genießt es, ganz »Connais­seur« schon jetzt, »wie herrlich ein durch die Plazenta dekan­tierter Burgun­der schmeckt«.

Auch wenn die Zeiten des Herumtollens und Purzelbaum­schlagens vorbei sind, der kleine Körper jetzt fest­steckt und manche Stöße seinem »brand­neuen Schädel gefähr­lich nahe kommen«, könnte der Fötus es sich die ver­bleiben­den paar Tage gut gehen lassen in seinem anregen­den Habitat – würden seine engsten Bezugs­personen nicht »Schreck­liches planen«, das ein mora­lisch intakter Geist nicht einfach hin­nehmen kann.

Am nächsten steht dem Baby sein Erzeuger, John Cairn­cross. Doch der ist ein allzu gefälliger Typ, frei von jeder Gier, einer, der es jedem recht machen möchte, als Verlags­leiter ebenso erfolg­los wie als Lyriker und zu allem Über­fluss von schlimmer Psoriasis verun­staltet. Mama Trudy hat ihn vor die Tür gesetzt, weil sie sich eine Auszeit verschaf­fen will. Um seinen recht­mäßigen Platz zurück­zuer­obern, fehlt es dem stillen Poeten an Tat­kraft und adäquaten Strate­gien. Die lyri­schen Lob­preisun­gen von Trudys Lippen, Haaren und Augen (de facto keines­wegs so grün wie »Galways Auen«) lassen die Besun­gene unbe­rührt und gelang­weilt, wie das Mensch­lein in ihrem Uterus an ihrem erschlaf­fenden Herz­schlag und dem trägen Gurgeln ihrer Organe registriert.

Schon vor der ersten Wahrnehmung des kleinen Wesens war seine Mutter ihrem Schwager Claude leiden­schaft­lich verfallen. Nun hat sich der Lieb­haber, Chef eines nicht sonder­lich profi­tablen Bau­unter­nehmens, fest bei ihr einge­nistet. Doch der respekt­lose Beob­achter aus der Innen­welt findet für ihn kein gutes Wort. Physisch ein »Pracht­exemplar«, ist der Mann »ein Werk­zeug zu grober Täu­schung, der Trudy hinters Licht führt, während er zugleich mit ihr Pläne schmiedet«. Oder trifft eine andere Inter­pretation besser, was den »schwach­köpfigen Tölpel« aus­macht? »Der Pudel hat keinen Kern, Claude ist als Verschwörer so ehrlich wie Trudy, nur dümmer.« Jeden­falls ist die Welt der beiden kalt, von Egois­mus und Geld­gier geprägt, was sie dazu antreibt, John zu vergiften.

Indem der Ungeborene die Planungen unfreiwillig mit anhören muss, erfährt er, dass es auch um seine eigene Zukunft nicht rosig bestellt ist. Die skrupel­lose Mama schwärmt von einem Leben zu zweit, »das Baby bringen wir irgend­wo unter«. Ein Leben als Adoptiv­kind mit »Computer­spielen statt Büchern, mit Zucker, Fett und körper­licher Gewalt«? Als »elender Drei­jähriger mit Igel­schnitt, Wampe und Tarn­hose«? Der Vater getötet, die Mutter (wenn ihr Plan schief geht) lebenslang im Gefängnis? Die Frage um »Sein oder Nicht­sein« treibt den kleinen Hamlet um. Soll er sich der Angst ein­flößen­den Welt ohne Liebe, Rück­sicht, Vernunft und Anstand nicht besser verwei­gern, den »stupiden Hof­gang der Exis­tenz« gar nicht erst an­treten, einen Ausweg im »Kinds­tod« suchen? Das alles ver­spricht »kein gutes Ende« …

Ian McEwan beherrscht das anspruchs­volle Unter­haltungs­genre aufs Vorzüg­lichste. Spannend, faszinierend, elegant und geist­reich meistert er den klassi­schen Plot und sein geniales lite­rari­sches Experi­ment. Einzig­artig ist der irr­witzige Einfall, einen Embryo als Erzähler zu instal­lieren, im Übrigen nicht. Schon Laurence Sterne (1713-1768), einer der Begrün­der des modernen Romans, reali­sierte das Konzept in seinem bahn­brechend bizarren Werk »Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman« Laurence Sterne: »Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman« bei Amazon (original: »The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman« Laurence Sterne: »The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman« bei Amazon ). Im Gegen­satz zu McEwans Held darf Tristram immer­hin das Licht der Welt er­blicken. Und in Charles Lewinskys »Andersen« Charles Lewinsky: »Andersen« bei Amazon (fast gleich­zeitig mit »Nutshell« erschie­nen) darf der Prota­gonist, eine Inkar­nation des ewig Bösen, sogar mehr­fach leben.


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