Onno Viets und der weiße Hirsch
von Frank Schulz
Der eigenwilligste Privatdetektiv der Literaturgeschichte zieht aufs Dorf. Doch die Idylle trügt gewaltig. Der Mittelpunkt der Welt ist beim dritten und letzten Onno Viets das Dörfchen Finkloch. Onnos scheinbar beschaulicher Sommer bei den Schwiegereltern hat einen düsteren Hintergrund: Geplagt von einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung, ist der Privatdetektiv von eigenen Gnaden von Hamburg raus aufs Land geflohen. Denn seit dem dramatischen Fall um den »Irren vom Kiez« ist er nicht mehr er selbst: Nicht nur, dass er an der Pingpongplatte versagt, er leidet vor allem unter ausgewachsenen Panikattacken, die seine Tage zur höllischen Qual werden lassen. Bald schon überschlagen sich die Ereignisse, es gibt sogar einen Toten …
Bewegte Zeiten für den Gönner
Onno ist ein in Ostfriesland nicht selten vergebener Vorname. Der Autor Frank Schulz hat ihn durch seine Romane auch im Rest der Republik bekannt gemacht. Sein Protagonist, Onno Viets, ist ein Antiheld ganz eigener Art, ein auf Sozialhilfeniveau geschrumpfter »Lebenskünstler« und charismatischer Kultcharakter. »Der Gönnende«, so die Bedeutung des Namens »Onno«, läuft in »Onno Viets und der weiße Hirsch« schon zum dritten Mal auf – wobei das Verb »laufen« so gar nicht passen will zur Wesensart des phlegmatischen Losers. Die arme Wurst, Jahrgang 1954, ist bereits in anderthalb Dutzend Jobs gescheitert, darunter Kneipenwirt, Journalist, Cartoonist, und sein letzter Anlauf, als Privatdetektiv zu reüssieren, hat ihm eine folgenschwere posttraumatische Belastungsstörung eingebracht. Jetzt bezieht er Hartz IV und hat im niedersächsischen Finkloch [sic! – aber »Funkloch« trifft auch eine Wahrheit ...] Unterschlupf bei seinen Schwiegereltern Henry und Britta Baensch gefunden. Deren Tochter Edda schaut an jedem zweiten Wochenende nach ihrem geliebten Spinner mit dem »treudoofen Blick«.
Damit auch Novizen der Serie wie ich eine ungefähre Ahnung vom vergangenen Geschehen bekommen, lässt der Autor einen Vertrauensmann Onnos zusammenfassen, was er für wichtig hält. Zuverlässig sind die Auskünfte des Dr. jur. Christopher Dannewitz allerdings nicht, denn seit sich sein langjähriger Sports- und Busenfreund freiwillig aus Hamburgs Großstadtgetöse hinauskatapultierte, hat der Anwalt meist nur aus der Ferne und aus zweiter Hand mitbekommen, was ihm alles widerfuhr. Ein wichtiger Informationsquell ist ihm besagte Edda, die sich an jedem zweiten Wochenende (dem von ehelichen Verpflichtungen freien) ihm widmet.
Dass seine Edda einen anderen hat, spürt Onno irgendwie, und das fügt den vielen Geistern, Albträumen und Panickattacken, die ihn heimsuchen, nur noch weitere hinzu. So findet er seinen Seelenfrieden nicht einmal in der Finklocher Idylle, wo jeder die Wäsche auf der Leine des anderen kennt und sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen.
Außerdem herrscht in dem Kaff auf plattem Land ein Kalter Krieg, seit eine Ex-Astro-TV-Moderatorin aus Niederbayern in die Ex-Dienstimmobilie des Ex-Amtsförster Henry Baensch einzog und im geliebten Försterhaus esoterische Entspannungskurse zelebriert. In lukrativen mehrtägigen Seminaren (»Luna Lessons«) geleitet die vom »Mondgott Chandra geschwängerte« Hohepriesterin einen Pulk körperlich und psychisch belasteter, in wallendes Weiß gewandeter Damen auf Selbstfindungstrip unter dem Vollmond zu der Waldlichtung, an deren Rand sich der Hochsitz von Henry Baensch befindet. Die nächtliche »Spökenkiekerei« von Frauenseelen, die sich, mit »squawmäßigem Gejodel« den Mond anheulend, in Ekstase versetzen, ist den einheimischen Grundständigen ein ebenso widerwärtiger »Skandalon« wie die unzähligen frei streunenden Katzen der Dame.
Bald beschäftigt sogar ein Mord die guten Dörfler und die Polizei. Knut Wiesmann, Forstwirt i.R., hatte mal wieder ein paar überzählige Lieblinge der »Katzenzenzi« erledigt, die Kadaver im Gebüsch entsorgt, wo Marder, Fuchs und Sau das Ihrige besorgten, ehe man ihn selbst tot auf der Mondwald-Kanzel fand. Schon vom gewaltsamen Tod seines Jagdfreundes tief getroffen, bricht Henry Baensch völlig zusammen, als er auf dem Hochsitz selbst in einen seltsamen Schusswechsel mit einer geheimnisvollen Person verwickelt wird.
Dem bewegungsscheuen Onno drohen bewegende Zeiten. Soll ausgerechnet er, als »Schwiegerniete«, »Schmarotzer«, »Null« und Zielscheibe blöder Witze (»zum Rodeln nach Hartz IV?«) verunglimpft, dem Schwiegervater »tätige Dankbarkeit« erweisen? Nach zwei Tagen inneren Kampfes ringt »der Gönner« sich durch: Als sich selbst beauftragender Privatdetektiv will er den rätselhaften Schützen identifizieren, und damit kommt auch der Krimistrang der Handlung in Fahrt. Doch gemach, weder Ermittlungen noch Aufklärung noch Action werden Onnos (oder unsere) Nerven aufreiben.
Denn wie ihr Held verweigern sich auch Schulz' Bücher jeder simplen Genrezuordnung. Regionalkrimi? Sozialdrama? Familienepos? Heimatroman? Alles ein bisschen, aber nichts davon dominant. Mit viel Liebe zum rustikalen Detail und hübsch originell (weitgehend ohne Platitüden) formuliert, beschreibt der Autor Land und Leute, Kaffee und Kuchen, die große Familienfeier zu Henrys siebzigstem Geburtstag, wunderbare Dialoge in Plattdeutsch inbegriffen (mit Übersetzung im Anhang, aber Fußnoten wären praktischer im Handling gewesen), aber Idylle will nicht aufkommen. Mit dem alten Amtsförster »baumen« wir auf den Hochsitz, nehmen ein paar Lektionen in Jägerlatein, erfahren, wie ein erlegtes Wild nach EU-Richtlinien korrekt zerlegt wird und weiteres an mehr oder weniger Nützlichem. Selbst die dem armen Onno auf den Leib geschriebene Rolle ist nur vordergründig komisch.
Über weitere Figuren wie den rätselhaften »Nelkenheini« bekommt der eigenwillig schräge Flachlandkrimi mit Familienanschluss gar eine historische Dimension. Da kommen die Siebziger-, Achtzigerjahre mit ihren Demonstrationen, Kommunen, der RAF und der Popkultur ins Spiel, und ein anderer Strang führt bis in die dunklen Tiefen deutscher Nachkriegsgeschichte von Vertreibung und Vaterverlust in den verlorenen deutschen Ostgebieten. Da legt sich eine eher düstere Stimmung irgendwie quer ins ansonsten unterhaltsame Ensemble. »Tja« – bzw. »Tjorp«, wie Schluff Onno jetzt anmerken könnte ...