Rezension zu »Onno Viets und der weiße Hirsch« von Frank Schulz

Onno Viets und der weiße Hirsch

von


Der eigenwilligste Privatdetektiv der Literaturgeschichte zieht aufs Dorf. Doch die Idylle trügt gewaltig. Der Mittelpunkt der Welt ist beim dritten und letzten Onno Viets das Dörfchen Finkloch. Onnos scheinbar beschaulicher Sommer bei den Schwiegereltern hat einen düsteren Hintergrund: Geplagt von einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung, ist der Privatdetektiv von eigenen Gnaden von Hamburg raus aufs Land geflohen. Denn seit dem dramatischen Fall um den »Irren vom Kiez« ist er nicht mehr er selbst: Nicht nur, dass er an der Pingpongplatte versagt, er leidet vor allem unter ausgewachsenen Panikattacken, die seine Tage zur höllischen Qual werden lassen. Bald schon überschlagen sich die Ereignisse, es gibt sogar einen Toten …
Belletristik · Galiani · · Gebunden · 368 S. · ISBN 9783869711270
Sprache: de · Herkunft: de

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Bewegte Zeiten für den Gönner

Rezension vom 04.04.2017 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Onno ist ein in Ostfriesland nicht selten vergebener Vorname. Der Autor Frank Schulz hat ihn durch seine Romane auch im Rest der Republik bekannt gemacht. Sein Prota­gonist, Onno Viets, ist ein Anti­held ganz eigener Art, ein auf Sozial­hilfe­niveau ge­schrumpf­ter »Lebens­künstler« und charisma­tischer Kult­charakter. »Der Gönnende«, so die Bedeutung des Namens »Onno«, läuft in »Onno Viets und der weiße Hirsch« schon zum dritten Mal auf – wobei das Verb »laufen« so gar nicht passen will zur Wesens­art des phlegma­tischen Losers. Die arme Wurst, Jahrgang 1954, ist bereits in andert­halb Dutzend Jobs gescheitert, darunter Kneipen­wirt, Journalist, Cartoonist, und sein letzter Anlauf, als Privat­detektiv zu reüssie­ren, hat ihm eine folgen­schwere post­trauma­tische Belas­tungs­störung einge­bracht. Jetzt bezieht er Hartz IV und hat im nieder­sächsi­schen Finkloch [sic! – aber »Funkloch« trifft auch eine Wahrheit ...] Unter­schlupf bei seinen Schwieger­eltern Henry und Britta Baensch gefunden. Deren Tochter Edda schaut an jedem zweiten Wochen­ende nach ihrem geliebten Spinner mit dem »treu­doofen Blick«.

Damit auch Novizen der Serie wie ich eine ungefähre Ahnung vom vergan­genen Geschehen bekommen, lässt der Autor einen Vertrauens­mann Onnos zu­sammen­fassen, was er für wichtig hält. Zuver­lässig sind die Auskünfte des Dr. jur. Christopher Danne­witz aller­dings nicht, denn seit sich sein lang­jähriger Sports- und Busen­freund frei­willig aus Hamburgs Groß­stadt­getöse hinaus­katapul­tierte, hat der Anwalt meist nur aus der Ferne und aus zweiter Hand mitbe­kommen, was ihm alles wider­fuhr. Ein wichtiger Infor­mations­quell ist ihm besagte Edda, die sich an jedem zweiten Wochen­ende (dem von ehe­lichen Ver­pflichtun­gen freien) ihm widmet.

Dass seine Edda einen anderen hat, spürt Onno irgend­wie, und das fügt den vielen Geistern, Alb­träumen und Panick­attacken, die ihn heim­suchen, nur noch weitere hinzu. So findet er seinen Seelen­frieden nicht einmal in der Fink­locher Idylle, wo jeder die Wäsche auf der Leine des anderen kennt und sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen.

Außerdem herrscht in dem Kaff auf plattem Land ein Kalter Krieg, seit eine Ex-Astro-TV-Modera­torin aus Nieder­bayern in die Ex-Dienst­immo­bilie des Ex-Amts­förster Henry Baensch einzog und im geliebten Förs­ter­haus esote­rische Ent­spannungs­kurse zelebriert. In lukra­tiven mehr­tägigen Semi­naren (»Luna Lessons«) geleitet die vom »Mondgott Chandra geschwän­gerte« Hohe­priesterin einen Pulk körper­lich und psychisch belas­teter, in wallendes Weiß gewan­deter Damen auf Selbst­findungs­trip unter dem Vollmond zu der Wald­lichtung, an deren Rand sich der Hochsitz von Henry Baensch befindet. Die nächt­liche »Spöken­kiekerei« von Frauen­seelen, die sich, mit »squaw­mäßigem Gejodel« den Mond anheu­lend, in Ekstase versetzen, ist den einheimi­schen Grund­ständi­gen ein ebenso wider­wärtiger »Skandalon« wie die unzäh­ligen frei streu­nenden Katzen der Dame.

Bald beschäftigt sogar ein Mord die guten Dörfler und die Polizei. Knut Wiesmann, Forstwirt i.R., hatte mal wieder ein paar über­zählige Lieb­linge der »Katzen­zenzi« erledigt, die Kadaver im Gebüsch entsorgt, wo Marder, Fuchs und Sau das Ihrige besorg­ten, ehe man ihn selbst tot auf der Mond­wald-Kanzel fand. Schon vom gewalt­samen Tod seines Jagd­freundes tief getroffen, bricht Henry Baensch völlig zusam­men, als er auf dem Hoch­sitz selbst in einen selt­samen Schuss­wechsel mit einer ge­heimnis­vollen Person ver­wickelt wird.

Dem bewegungsscheuen Onno drohen bewegende Zeiten. Soll ausge­rechnet er, als »Schwieger­niete«, »Schma­rotzer«, »Null« und Ziel­scheibe blöder Witze (»zum Rodeln nach Hartz IV?«) verun­glimpft, dem Schwieger­vater »tätige Dank­bar­keit« erweisen? Nach zwei Tagen inneren Kampfes ringt »der Gönner« sich durch: Als sich selbst beauf­tragen­der Privat­detektiv will er den rätsel­haften Schützen identi­fizie­ren, und damit kommt auch der Krimi­strang der Hand­lung in Fahrt. Doch gemach, weder Ermitt­lungen noch Auf­klärung noch Action werden Onnos (oder unsere) Nerven aufreiben.

Denn wie ihr Held verweigern sich auch Schulz' Bücher jeder simplen Genre­zuord­nung. Regional­krimi? Sozial­drama? Familien­epos? Heimat­roman? Alles ein bisschen, aber nichts davon dominant. Mit viel Liebe zum rusti­kalen Detail und hübsch origi­nell (weit­gehend ohne Plati­tüden) formu­liert, beschreibt der Autor Land und Leute, Kaffee und Kuchen, die große Familien­feier zu Henrys siebzigs­tem Geburts­tag, wunder­bare Dialoge in Platt­deutsch inbe­griffen (mit Über­setzung im Anhang, aber Fuß­noten wären prak­ti­scher im Hand­ling gewesen), aber Idylle will nicht aufkommen. Mit dem alten Amts­förster »baumen« wir auf den Hoch­sitz, nehmen ein paar Lektio­nen in Jäger­latein, erfahren, wie ein erlegtes Wild nach EU-Richt­linien korrekt zerlegt wird und weiteres an mehr oder weniger Nütz­lichem. Selbst die dem armen Onno auf den Leib geschrie­bene Rolle ist nur vorder­gründig komisch.

Über weitere Figuren wie den rätsel­haften »Nelken­heini« bekommt der eigen­willig schräge Flach­land­krimi mit Familien­anschluss gar eine histo­rische Dimension. Da kommen die Sieb­ziger-, Achtzi­gerjahre mit ihren Demonstra­tionen, Kommunen, der RAF und der Pop­kultur ins Spiel, und ein anderer Strang führt bis in die dunklen Tiefen deutscher Nach­kriegs­geschichte von Vertrei­bung und Vater­ver­lust in den ver­lorenen deut­schen Ostge­bieten. Da legt sich eine eher düstere Stimmung irgend­wie quer ins ansonsten unter­halt­same Ensemble. »Tja« – bzw. »Tjorp«, wie Schluff Onno jetzt anmerken könnte ...


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