Das Leben wartet nicht
von Marco Balzano
Ninetto war noch ein Kind, als er allein von Sizilien nach Mailand kam, um Arbeit zu suchen. Ein furchtloser Junge mit der Sonne des Südens im Herzen. Obwohl er noch zu klein war für das Fahrrad, fand er sogleich eine Anstellung als Bote. Heute, über fünfzig Jahre später, erkennt sich Ninetto in den Neuankömmlingen aus China und Nordafrika wieder. Sie haben dieselben Träume wie er damals. Und setzen alles daran, sie zu verwirklichen.
Addio Sicilia
Ninetto Giacalone wird 1950 als Siebenmonatskind im sizilianischen Landstädtchen San Cono geboren. Bis er neun Jahre alt ist, verläuft seine Kindheit glücklich – im Rahmen der bescheidenen sozialen Verhältnisse. Arme Hungerleider sind alle hier im tiefen Süden, wo eine Sardelle die einzige geschmackliche Bereicherung ihres täglich gleichen Brotes ist. »Sei’s drum«, mehr weiß dazu niemand zu sagen. In der Schule hat der schmächtige Ninetto (»kleiner Nino«) bald seinen Spitznamen weg: »pelleossa«, »Hautundknochen«, und er begleitet ihn sein Leben lang.
Ninetto geht gern zur Schule. Die Vorträge seines Lehrers Vincenzo beeindrucken ihn nachhaltig. Es sind schlichte Interpretationen einer fernen, fremden Welt, wo beispielsweise einmal ein Mann namens »Schanschak Russò« lebte, von Beruf »Denker« – was immer er da tagaus, tagein gearbeitet haben mag. Er wusste jedenfalls, dass irgendwann einmal einer ein Stück Natur, die bis dahin alle genutzt hatten, einzäunte und sagte: »Das gehört mir.« Damit hat er das »Privateigentum« erfunden, und seither gibt es Arme und Reiche, Grundbesitzer und Habenichtse. Auch Signor Tommaso Campanella muss vor vierhundert Jahren ein starker Mensch gewesen sein, denn er war nur der Sohn eines Schusters, konnte nie eine Schule besuchen, verlor trotzdem »nie den Mut« und wurde später ein Dichter. Aus solchen Vorbildern schöpft Ninetto Zuversicht und Hoffnung, dass auch er einmal Dichter, Denker oder Dorfschullehrer werden könne.
Doch die Realität macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Im Oktober 1959 beendet ein Schlaganfall der Mutter abrupt seine Kindheit. Für den Luxus, in die Schule zu gehen, ist kein Spielraum mehr, jetzt muss er mit dem Vater als Tagelöhner auf dem Feld des Großgrundbesitzers schuften. Die Hausarbeiten und die Versorgung der Mama übernimmt deren Schwester, die »bucklige Besserwisserin« Tante Filomena. Vater ist immer seltener zu Hause, betrinkt sich in der Kneipe, zockt beim Kartenspiel, verprügelt seinen Sohn. Das Geld reicht hinten und vorne nicht.
Vielleicht wartet ja in weiter Ferne ein Ausweg aus der Misere. Wenn der trottelige Guivà, während er sich wie alle anderen auf dem Acker von Don Alfio für nichts und wieder nichts zugrunde hackt, von Mailand schwärmt, klingt es, als rede er vom Paradies: Die reiche »Stadt voller Lichter« mit ihren »Tausenden von Fabriken« bietet Arbeit in Hülle und Fülle, behauptet er. Und so besteigt der magere Knirps Ende 1959 einen Zug, der ihn in eine ungewisse Zukunft im unbekannten Norden des Landes bringt. Wird er dort mutterseelenallein sein Lebensglück finden?
Ninetto war nicht der Einzige, der das gefahrvolle Abenteuer antrat. Wenn das Geld nicht für den Wegzug der Familie aus den ärmsten Regionen Süditaliens in das boomende Industriedreieck Turin-Mailand-Genua reichte, wurden viele Jungen (und auch Mädchen) bis maximal dreizehn Jahre alleine dorthin geschickt. Manche kamen zunächst bei Verwandten unter, andere waren wie Ninetto ganz auf sich allein gestellt, um sich mit Gelegenheitsjobs irgendwie über Wasser zu halten. Aus anfänglichem naivem Enthusiasmus wurde schnell Ernüchterung und Hoffnungslosigkeit. Als unqualifizierte, schwache und zumindest in der ersten Zeit hilflose Billigstkräfte wurden die Kinder ausgebeutet und mussten ein jämmerliches Dasein fristen – Verlierer in einer fremden Welt ohne familiäre Bindung. Das große Los zog, wer eine Festanstellung in einer Fabrik ergattern konnte. Dazu musste man allerdings erst fünfzehn Jahre alt werden.
Solch ein erbarmungswürdiges Schicksal hat der Mailänder Autor Marco Balzano, 1978 selbst als Kind süditalienischer Migranten geboren, zum Thema seines Romans »L’ultimo arrivato« (2014) gemacht. Dazu hat er die triste Historie der »Kinderemigration«, die in den Jahren 1959 bis 1962 einen letzten Höhepunkt erreichte, recherchiert und vor allem Zeitzeugen über ihre Erlebnisse sprechen lassen. Beim Schreiben ließ er »ihre Stimmen in mir nachklingen und sich … frei in meinem Kopf vermischen«. Das Buch wurde mit dem Premio Campiello 2015 ausgezeichnet, und Maja Pflug hat es jetzt ins Deutsche übersetzt.
Ninetto, der Ich-Erzähler, mit nicht einmal sechzig Jahren alt und seelisch gebrochen, blickt zurück, erinnert sich an vieles in seinem Leben, spricht ohne Strukturierung, wie es ihm gerade in den Sinn kommt, und zieht ein deprimierendes Resümee. Zwar hatte er auch Glück – er konnte einen festen Job erobern und als Fünfzehnjähriger mit dem bisschen Lohn seine große Liebe Maddalena heiraten, sie bekamen eine Tochter, und in den 32 Jahren, die er bei Alfa Romeo arbeitete, hat er sich weitergebildet und einen Hauptschulabschluss erworben. Trotzdem ist Ninetto enttäuscht darüber, was er aus dem Leben, diesem Geschenk Gottes, gemacht hat. Er hat es mit eintöniger Arbeit, einem »ewiggleichen« Alltag vergeudet.
Und dann ist da noch das Ereignis, das Ninettos Existenz in ein »Davor« und ein »Danach« zerschneidet. Er hat einmal sein Messer gegen einen Mann gerichtet, der – aus seiner Perspektive – einer Frau gefährlich nahe gekommen war. Ninetto ist einsichtig, gesteht seine Tat, nimmt das Urteil – zehn Jahre Gefängnis – an. Doch die Haft ist eine lange Phase innerer Leere und des Stillstands, während draußen das Leben weitergeht und nicht auf ihn wartet. Als er wieder frei kommt, tut sich ein tiefer »Graben zwischen mir und der Welt« auf. Alle früheren Bekannten sind weggezogen, Maddalena duldet ihn nur, ihre Tochter wünscht keinen Kontakt mehr. Sie ist inzwischen verheiratet und hat selbst eine fünfjährige Tochter, die ihren Großvater nie kennenlernen soll.
Dennoch ist die Sehnsucht, seine kleine Enkelin zu sehen, ein paar Worte mit ihr zu wechseln, das Einzige, das den alten Mann am Leben hält. Aus der Ferne beobachtet er das Haus, in dem die Tochter mit ihrer Familie lebt, und hofft auf eine zufällige Begegnung.
Ansonsten verbringt er seine Tage vereinsamt auf der Bank eines Buswartehäuschens. Hier liest er (bezeichnenderweise Albert Camus’ Roman »Der Fremde«), beobachtet und belauscht den Busfahrer, die Politesse, den Barmann, die vor seinen Augen ihrer Arbeit nachgehen. Er schließt Freundschaft mit Mustafa, dem Straßenhändler, und dem Inder Amish. Die beiden jungen Chinesen, die die Bar Aurora übernommen haben, begrüßen ihn mit strahlendem Gesicht und Kinderstimme: »Guten Molgen, Ninèto!« Er sieht, wie hart die meisten Migranten aus fernen Kulturen hier arbeiten, wie sie als billige Arbeitskräfte ausgenutzt werden, wie fremd sie sich auf diesem Teil des Planeten fühlen, und erkennt darin ein Stück seines eigenen Werdegangs.
Marco Balzano ist ein Meister der leisen Töne, des sachlichen Protokollierens. Das desillusionierende Schicksal seines Protagonisten entfaltet seine Kraft aus sich selbst heraus und lässt niemanden unberührt. Durch den Brückenschlag zu den Migranten unserer Tage enthebt es der Autor seiner Vergangenheit, legt die allgemeinen Erfahrungen offen, die Menschen wohl zu allen Zeiten machen mussten.