Rezension zu »Das Leben wartet nicht« von Marco Balzano

Das Leben wartet nicht

von


Ninetto war noch ein Kind, als er allein von Sizilien nach Mailand kam, um Arbeit zu suchen. Ein furchtloser Junge mit der Sonne des Südens im Herzen. Obwohl er noch zu klein war für das Fahrrad, fand er sogleich eine Anstellung als Bote. Heute, über fünfzig Jahre später, erkennt sich Ninetto in den Neuankömmlingen aus China und Nordafrika wieder. Sie haben dieselben Träume wie er damals. Und setzen alles daran, sie zu verwirklichen.
Belletristik · Diogenes · · Gebunden · 304 S. · ISBN 9783257069839
Sprache: de · Herkunft: it · Region: Lombardei

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Addio Sicilia

Rezension vom 11.04.2017 · 11 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Ninetto Giacalone wird 1950 als Siebenmonatskind im sizilia­nischen Land­städt­chen San Cono geboren. Bis er neun Jahre alt ist, verläuft seine Kind­heit glück­lich – im Rahmen der beschei­denen sozialen Verhält­nisse. Arme Hunger­leider sind alle hier im tiefen Süden, wo eine Sardelle die einzige geschmack­liche Be­reiche­rung ihres täglich gleichen Brotes ist. »Sei’s drum«, mehr weiß dazu niemand zu sagen. In der Schule hat der schmäch­tige Ninetto (»kleiner Nino«) bald seinen Spitz­namen weg: »pelle­ossa«, »Haut­und­knochen«, und er beglei­tet ihn sein Leben lang.

Ninetto geht gern zur Schule. Die Vorträge seines Lehrers Vincenzo beein­drucken ihn nachhaltig. Es sind schlichte Inter­pretatio­nen einer fernen, fremden Welt, wo beispiels­weise einmal ein Mann namens »Schan­schak Russò« lebte, von Beruf »Denker« – was immer er da tagaus, tagein gear­beitet haben mag. Er wusste jeden­falls, dass irgend­wann einmal einer ein Stück Natur, die bis dahin alle genutzt hatten, einzäunte und sagte: »Das gehört mir.« Damit hat er das »Privat­eigen­tum« erfunden, und seither gibt es Arme und Reiche, Grund­besitzer und Habe­nichtse. Auch Signor Tommaso Campa­nella muss vor vier­hundert Jahren ein star­ker Mensch gewesen sein, denn er war nur der Sohn eines Schusters, konnte nie eine Schule besuchen, verlor trotz­dem »nie den Mut« und wurde später ein Dichter. Aus solchen Vor­bildern schöpft Ninetto Zu­ver­sicht und Hoffnung, dass auch er einmal Dichter, Denker oder Dorf­schul­lehrer werden könne.

Doch die Realität macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Im Oktober 1959 beendet ein Schlag­anfall der Mutter abrupt seine Kind­heit. Für den Luxus, in die Schule zu gehen, ist kein Spiel­raum mehr, jetzt muss er mit dem Vater als Tage­löhner auf dem Feld des Groß­grund­besit­zers schuften. Die Haus­arbei­ten und die Versor­gung der Mama über­nimmt deren Schwester, die »buck­lige Besser­wisserin« Tante Filo­mena. Vater ist immer seltener zu Hause, betrinkt sich in der Kneipe, zockt beim Karten­spiel, verprü­gelt seinen Sohn. Das Geld reicht hinten und vorne nicht.

Vielleicht wartet ja in weiter Ferne ein Ausweg aus der Misere. Wenn der trot­telige Guivà, während er sich wie alle anderen auf dem Acker von Don Alfio für nichts und wieder nichts zugrunde hackt, von Mailand schwärmt, klingt es, als rede er vom Para­dies: Die reiche »Stadt voller Lichter« mit ihren »Tau­sen­den von Fabri­ken« bietet Arbeit in Hülle und Fülle, behaup­tet er. Und so besteigt der magere Knirps Ende 1959 einen Zug, der ihn in eine unge­wisse Zukunft im unbe­kann­ten Norden des Landes bringt. Wird er dort mutter­seelen­allein sein Lebens­glück finden?

Ninetto war nicht der Einzige, der das gefahr­volle Aben­teuer antrat. Wenn das Geld nicht für den Wegzug der Familie aus den ärmsten Regionen Süd­italiens in das boo­mende Industrie­dreieck Turin-Mailand-Genua reichte, wurden viele Jungen (und auch Mäd­chen) bis maximal drei­zehn Jahre alleine dorthin geschickt. Manche kamen zunächst bei Ver­wandten unter, andere waren wie Ninetto ganz auf sich allein gestellt, um sich mit Gelegen­heits­jobs irgend­wie über Wasser zu halten. Aus anfäng­lichem naivem Enthu­siasmus wurde schnell Ernüch­terung und Hoffnungs­losig­keit. Als unquali­fizierte, schwache und zumin­dest in der ersten Zeit hilf­lose Billigst­kräfte wurden die Kinder ausge­beutet und mussten ein jämmer­liches Dasein fris­ten – Ver­lierer in einer fremden Welt ohne fami­liäre Bindung. Das große Los zog, wer eine Fest­anstel­lung in einer Fabrik ergat­tern konnte. Dazu musste man aller­dings erst fünf­zehn Jahre alt werden.

Solch ein erbarmungswürdiges Schicksal hat der Mailänder Autor Marco Balzano, 1978 selbst als Kind süd­italieni­scher Migranten geboren, zum Thema seines Romans »L’ultimo arrivato« Marco Balzano: »L’ultimo arrivato« bei Amazon (2014) gemacht. Dazu hat er die triste Historie der »Kinder­emig­ration«, die in den Jahren 1959 bis 1962 einen letzten Höhepunkt erreichte, recher­chiert und vor allem Zeit­zeugen über ihre Erleb­nisse sprechen lassen. Beim Schreiben ließ er »ihre Stim­men in mir nach­klingen und sich … frei in meinem Kopf ver­mischen«. Das Buch wurde mit dem Premio Campiello 2015 ausge­zeichnet, und Maja Pflug hat es jetzt ins Deutsche über­setzt.

Ninetto, der Ich-Erzähler, mit nicht einmal sechzig Jahren alt und seelisch gebrochen, blickt zurück, erin­nert sich an vieles in seinem Leben, spricht ohne Struktu­rierung, wie es ihm gerade in den Sinn kommt, und zieht ein deprimie­rendes Resümee. Zwar hatte er auch Glück – er konnte einen festen Job erobern und als Fünf­zehn­jähriger mit dem bisschen Lohn seine große Liebe Madda­lena heiraten, sie bekamen eine Tochter, und in den 32 Jahren, die er bei Alfa Romeo arbeitete, hat er sich weiter­gebildet und einen Haupt­schul­abschluss erworben. Trotz­dem ist Ninetto ent­täuscht darüber, was er aus dem Leben, diesem Ge­schenk Gottes, gemacht hat. Er hat es mit ein­töniger Arbeit, einem »ewig­gleichen« Alltag vergeudet.

Und dann ist da noch das Ereignis, das Ninettos Existenz in ein »Davor« und ein »Danach« zer­schneidet. Er hat einmal sein Messer gegen einen Mann gerichtet, der – aus seiner Perspek­tive – einer Frau gefähr­lich nahe gekommen war. Ninetto ist ein­sichtig, gesteht seine Tat, nimmt das Urteil – zehn Jahre Gefängnis – an. Doch die Haft ist eine lange Phase innerer Leere und des Still­stands, wäh­rend draußen das Leben wei­ter­geht und nicht auf ihn wartet. Als er wieder frei kommt, tut sich ein tiefer »Graben zwischen mir und der Welt« auf. Alle frühe­ren Bekann­ten sind wegge­zogen, Madda­lena duldet ihn nur, ihre Tochter wünscht keinen Kontakt mehr. Sie ist in­zwischen verhei­ratet und hat selbst eine fünf­jährige Tochter, die ihren Groß­vater nie kennen­lernen soll.

Dennoch ist die Sehnsucht, seine kleine Enkelin zu sehen, ein paar Worte mit ihr zu wechseln, das Einzige, das den alten Mann am Leben hält. Aus der Ferne beob­achtet er das Haus, in dem die Tochter mit ihrer Familie lebt, und hofft auf eine zufällige Begeg­nung.

Ansonsten verbringt er seine Tage vereinsamt auf der Bank eines Bus­warte­häus­chens. Hier liest er (bezeich­nender­weise Albert Camus’ Roman »Der Fremde«), beob­achtet und belauscht den Busfahrer, die Politesse, den Barmann, die vor seinen Augen ihrer Arbeit nach­gehen. Er schließt Freund­schaft mit Mus­tafa, dem Straßen­händler, und dem Inder Amish. Die beiden jungen Chinesen, die die Bar Aurora über­nom­men haben, begrüßen ihn mit strah­len­dem Gesicht und Kinder­stimme: »Guten Molgen, Ninèto!« Er sieht, wie hart die meisten Migran­ten aus fernen Kulturen hier arbeiten, wie sie als billige Arbeits­kräfte ausge­nutzt werden, wie fremd sie sich auf diesem Teil des Planeten fühlen, und erkennt darin ein Stück seines eigenen Werde­gangs.

Marco Balzano ist ein Meister der leisen Töne, des sach­lichen Proto­kollie­rens. Das des­illusionie­rende Schick­sal seines Protago­nisten ent­faltet seine Kraft aus sich selbst heraus und lässt nie­manden unbe­rührt. Durch den Brücken­schlag zu den Mig­ranten unserer Tage enthebt es der Autor seiner Ver­gangen­heit, legt die allge­meinen Erfah­rungen offen, die Menschen wohl zu allen Zeiten machen mussten.


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