
Obsessionen
Ein zäher Bursche ist er, der junge Drehbuchschreiber, den Annelise Mair in Amerika kennengelernt und geheiratet hat. Gegen alle Widrigkeiten hat Jeremiah Salinger es geschafft, gemeinsam mit seinem Partner Mike McMellan eine TV-Doku-Serie zu konzipieren, zu realisieren und lukrativ zu vermarkten. Aber nach der vierten Staffel muss etwas Neues her. Für eine kreative Pause ziehen Annelise, Jeremiah und die 2008 geborene Tochter Clara im Dezember 2012 in Annelises Heimat, nach Südtirol.
Kein Zugereister hat es einfach in den abgelegenen Bergdörfern jener Region, wo seit Urzeiten jeder Tag den widrigen Gegebenheiten des Geländes und den Naturgewalten abgerungen und vor durchziehenden Feinden verteidigt werden musste, wo seit Generationen Familien aufsteigen und für ein paar Jahrzehnte den Ton angeben, während andere absteigen, wo uralte Traditionen das Miteinander und den Jahresablauf bestimmen, wo sich Misstrauen und Verschwiegenheit als Tugenden bewährt haben und wo hinter jeder Haustür düstere Geheimnisse gehütet werden.
Dank seiner Familienbande bekommt »der Amerikaner« (oder einfach »Salinger«) leichter Einblick. Schwiegervater Werner, ein knorriger verwitweter Endsiebziger, gehört zum innersten Kreis der (fiktiven) Gemeinde Siebenhoch. In den Sechzigerjahren ahnten er und eine Handvoll Freunde, welche Bedeutung dem Bergsteigen und dem einsetzenden Tourismus zukommen würde, und gründeten den »Bergrettungsdienst Dolomiten«. Aus dem improvisierten Freizeitengagement der jungen Männer ist eine professionell geführte Organisation mit Hubschrauber und Notarzt geworden, deren Aktivitäten bei Salinger gleich eine neue Projektidee zünden: Eine factual-Serie soll den packenden Alltag der »Mountain Angels« auf die Bildschirme der Welt bringen.
Mike im fernen Amerika trägt das Konzept mit, doch eine Katastrophe beendet die vielversprechenden Anfänge der Produktion. Am 15. September 2013 gerät Salinger bei einem Hubschrauberabsturz in eine Gletscherspalte, sein Leben scheint verloren. Im Dunkel jenes Gefängnisses ergreift die Wahnvorstellung Besitz von ihm, dass eine mysteriöse »Bestie« ihr Spiel mit ihm treibe. Noch lange nach seiner Rettung suchen ihn Albträume heim, und er beschließt, in Siebenhoch ein Sabbatjahr einzulegen.
Mit diesem Plan macht Salinger Annelise glücklich, denn sein rastloser Eifer belastet sie schon lange, und er wünscht sich auch selbst mehr Zeit für sein aufgewecktes, kluges Töchterchen. Aber fatalerweise kann er sich nicht aus seiner Haut befreien. Trotz aller Vorsätze und Versprechungen verfängt er sich in einer neuen Obsession, die den zentralen Handlungsstrang des Romans ausmacht. Er erfährt von einem brutalen Massaker, dem 1985 in einer ungewöhnlich heftigen Sturmnacht in der wilden Schlucht des Bletterbachs drei junge Leute aus Siebenhoch zum Opfer fielen. Zwar gab es Verdächtige, aber die polizeilichen Untersuchungen brachten weder verwertbare Indizien noch Beweise zutage.
Salinger verbeißt sich umso heftiger in den Fall, je undurchdringlicher das Dickicht aus vorgetäuschter Unwissenheit, Ablenkungsversuchen, Verstocktheit Vertuschung und unverhohlenen Drohungen wird. Seine privaten Ermittlungen beginnen im Dorf, wo er über Werner das Vertrauen von dessen Freunden und deren Familienangehörigen zu gewinnen versucht, führen ihn später zu Behörden und Archiven in Bozen und natürlich auch zum Tatort, dem beeindruckenden »Grand Canyon Südtirols« mit seinen schroffen Felsformationen, berühmten Fossilien und unterirdischen Höhlenlabyrinthen. Wo auch immer er recherchiert, stößt er auf Rätselhaftes und Widersprüchliches, auf merkwürdige Schicksale, enttäuschte Hoffnungen, zerstörte Existenzen, und doch schafft er es immer wieder, neue Quellen anzuzapfen, das Vertrauen von Informanten zu erschleichen und ihnen zu entlocken, was niemals ausgesprochen werden sollte.
In seiner Besessenheit kennt Salinger keine Skrupel. Dreist täuscht der begnadete Geschichtenerfinder und Schauspieler die Befragten über seine wahren Intentionen (Tatsächlich trägt er sich mit dem Gedanken, einen Film über das Massaker zu drehen.), und selbst seine Versprechen gegenüber Annelise und Clara bricht er am laufenden Band, um sich Freiräume für seine Nachforschungen zu verschaffen. Nicht einmal zu sich selbst ist er immer ehrlich. Er leidet unter seinen Traumata, muss sich mit Medikamenten beruhigen, kassiert immer heftigere Prügel, aber nichts hält ihn auf. Die leeren Hüllen verworfener guter Vorsätze (»Wie gern hätte ich ihr gesagt, dass ich sie liebte. Ich behielt es für mich.«) pflastern seinen Weg.
Trotz seiner Schwächen ist dieser Protagonist eine sympathische Figur, denn er verfolgt sein Anliegen, der Gerechtigkeit auf die Sprünge zu helfen, hartnäckig und klug, er glänzt durch Geistesgegenwart und Gewitztheit, ist ein sensibler Ehemann und einfühlsamer Vater, und er ist zu Selbstironie fähig. Wenn es der skeptischen, aber langmütigen Annelise zu bunt wird, hält sie ihrem Mann vor Augen, wie er die Existenz seiner Familie und sein eigenes Wohlergehen aufs Spiel setzt. Dann wird er ganz charmant und einsichtig, verspricht das Blaue vom Himmel herunter – bis ein Hinweis, ein Einfall das Feuer seines Forschungsdrangs neu entflammt.
Salingers Ich-Erzählung ist bis zu den letzten Seiten packend und unglaublich windungsreich, aber ihr Funke zündet nicht am Anfang. Die ersten einhundert Seiten bereiten großflächig den Boden für das, was sich auf den restlichen 380 Seiten abspielt. Es geht um die Vorgeschichte, die amerikanischen Filmprojekte, Südtirol, die Charaktere, ihre Verflechtungen untereinander und dergleichen – nett zu lesen, aber noch ohne Thrill. Regelmäßig wiederkehrende ominöse Vorausverweise auf spätere unerhörte Geschehnisse halten den hoffnungsvollen Leser vorläufig bei der Stange.
Wenngleich »La sostanza del male« (übersetzt von Verena von Koskull) international als Debütwerk vermarktet wird, ist der Autor kein Anfänger. Er hat bereits zwei Bücher veröffentlicht, die allerdings unbeachtet blieben. In einem Interview mit der Zeitung La Repubblica nennt er auch sich selbst »un ossessivo«, der fleißig Material sammelt, alles pingelig dokumentiert und erst zu schreiben beginnt, wenn im Konzept jedes Mosaiksteinchen an seinem richtigen Platz sitzt. Das sorgfältige Handwerk erzeugt keinen literarischen Höhenflug, zahlt sich aber aus, indem alles perfekt zusammenpasst: vielfältige, schillernde Charaktere; dramatische Szenen; ungewöhnliche Schauplätze mit unterschiedlichster Atmosphäre (darunter Gothic, Familienidylle und filmreife Action); eine originelle Sprachgestaltung. So wird der Leser mit maximalem Genuss durch den spannenden Plot gelenkt, und am Ende bleibt keine einzige Frage offen.
Im Verlauf seiner Recherchen eröffnen sich dem Protagonisten immer neue Theorien zum Tathergang. Da bleibt kaum jemand unverdächtig, nicht einmal die leibhaftige »Bestie«. So abenteuerlich manche Version erscheint, sind doch alle so überzeugend hergeleitet, dass man sie im Kontext zu akzeptieren bereit ist. Schließlich kann Salinger keiner etwas vormachen, Irrationalismus ist seiner Natur fremd, und auch der Autor hat Vergnügen am Spiel mit dem Zweifel.
Luca D'Andrea ist keiner, der sein Pulver achtlos verschießt, sondern sein kostbares Material ökonomisch und mit maximalem Effekt aufbereitet. Wenn die Spannung einen neuen Gipfel erreicht, unterbricht er gern, um als retardierendes Moment eine Nebenepisode, ein Stückchen Vorgeschichte oder einen Exkurs einzuschieben. Und der gebürtige Bozener hat viel Interessantes mitzuteilen, über geologische und meteorologische Besonderheiten, Bergbau, »Ötzi« im Archäologiemuseum seiner Heimatstadt, die gespenstischen Krampus-Bräuche und andere alte Traditionen der Bergtäler. Stereotypen bleiben nicht aus, werden aber durch sanfte Ironie aufgebrochen.
Was erwartet man von einem Thriller? Hochspannung, Monströses und Dämonisches, immer neue Überraschungen, wenn man sich auf sicherem Grund wähnt, Zweikämpfe auf Leben und Tod, Ritterlichkeit, durchdringende, verzweifelte Schreie im nächtlichen Gewittersturm ... Dieses Buch, das alle Erwartungen bis zur letzten Seite erfüllt, habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2017 aufgenommen.