Vom Braunschweiger zum New Lifer
Gibt es irgendeinen Zusammenhang zwischen dem Selbstmord von Pater Xaver im Franziskaner-Konvikt und den beiden Todesfällen im schnieken Fitness-Center "New Life"?
Der 62-jährige Edgar hat zwei Leben. 35 Jahre lang war er ein "Braunschweiger", ein Männlein mit "brauner Kutte und nix reden", als Pater Fidelis im Franziskanerkloster von Gerlach. Jetzt, in seinem neuen Leben, ist er mit der resoluten Regina zusammen und ist Chef des "New Life"-Studios in Treibern, einem österreichischen Kaff, dessen Bedeutungslosigkeit mathematisch so formuliert wird: "Treibern, das ist Wien dividiert durch Salzburg, der Rest multipliziert mit Bad Ischl".
Warum hat Pater Fidelis seine Existenz gewechselt? Nach dem Studium an der Uni Passau findet er 1965 sein Glück als Lateinlehrer im Gerlacher Knabeninternat der Franziskaner. Bei den Schülern ist er beliebt; er betreut sie nachmittags bei den Hausaufgaben und liest ihnen vorm Schlafengehen vor. Er spürt die "Leidenschaft, die keine Leiden schafft: jene für Jesus", und weiß: Hier ist der Ort seiner lebenslangen Bestimmung.
Die "graue Eminenz" des Klosters ist Pater Xaver. Aber der 80-jährige ist altersmüde, und er übergibt seine Bibliothek und sein Archiv in die treuen Hände von Pater Fidelis. Der findet bei seinen Sortierungsarbeiten ein Konvolut aus dem Jahre 1938, ein anonymes Protokoll über die Auswirkungen der großen Politik auf den Alltag des damaligen Konvikts im Schloss auf dem Rosenhügel. Grauenhaftes muss Fidelis darin lesen ...
Stammt das handschriftliche Dokument aus der Feder von Pater Xaver? Fidelis drängt den alten Mann zu einer Bestätigung, entlockt ihm "das traurige Geständnis" – und lädt "unschuldig Schuld auf sich". Denn in seiner Zelle erhängt sich Pater Xaver am Zingulum, dem weißen Strick mit den drei Knoten, die Gehorsam, Armut und Ehelosigkeit symbolisieren. Es ist das Jahr 1975.
Bald darauf wendet sich Pater Fidelis' Schicksal. Gegen die anonyme, schändliche Verleumdung zweier Jungen ist der wahrlich gute und redliche Bruder macht- und wehrlos. Hinaus katapultiert aus der klösterlichen Gemeinschaft, ist er mit dem Glauben fertig; der Kern seiner Berufung ist zerschlagen worden.
2010 holt die Vergangenheit Edgar ein. Seit kurzem gehören Johannes Reichert und Otto Bell zu seinem Kundenkreis. Die beiden Fünfzigjährigen – Exschüler aus dem Internat – erstrampeln sich aus eigener Kraft ihre Dosis Glückseligkeit im "New Life", einer "quasisprituellen Enklave im materialistischen Alltag". Doch leider währt ihr Glück nur kurz: Der eine fällt vom Rad, den anderen erschlägt die Hantel. Ein unglücklicher Zufall, oder steckt mehr dahinter? Nur dumm, dass Edgar im Wald stürzt und an einem Findling, den der "Teufel in seiner Wut hierhergeschleudert hat", mit dem Kopf aufschlägt. Damit ist Edgar, der "Gestrauchelte", auf dem "Boden der Realität" angekommen. Diagnose: Schädel-Hirn-Trauma – und alles ist perdu, denn Edgar kann sich an die letzten drei Wochen nicht mehr erinnern. Hätte er doch nur sein Handy, auf dem er heimlich viele Gespräche mitgeschnitten hatte. Aber auch das ist futsch ...
Der Österreicher Franz Kabelka hat mit "Jemand anders" einen eigensinnigen Kriminalroman geschrieben. Weit und breit ist kein alkoholisierter, drogenabhängiger, korrupter Kommissar in Sicht, auch von Ermittlungen findet sich keine heiße Spur. Durch ständige Perspektiv- und Zeitenwechsel, dazu die Handymitschnitte in den Dateien 0005.amr fortlaufend, erschließt sich die Handlung vielleicht etwas mühselig. Doch welches Aha-Erlebnis: Ist man am Ende angekommen, blättert noch einmal zurück, liest manche Passagen erneut, so fällt es wie Schuppen von den Augen. Jeder Satz des Autors stimmt perfekt, all seine zart ausgesponnenen Fäden müssen nur wahrgenommen werden, um sich zu einem wild kolorierten Bild zu fügen, das im Ambiente von "New Life", des exklusiven Clubs der Eitelkeit, der "Vanity Fair des einundzwanzigsten Jahrhunderts", einen passenden Platz fände.
Es lohnt sich, dieses Buch noch einmal zu lesen. Das Dunkel lichtet sich, alles wird kristallklar. Viel bewusster genießt man nun die subtile Ironie des Autors, wenn er das Windfähnchen-Verhalten der katholischen Kirche zur Zeit des Nationalsozialismus ans Tageslicht bringt und das Thema des Missbrauchs Schutzbefohlener um eine tragisch-groteske Variante bereichert. Franz Kabelkas Stil – voller semantischer Wortspiele und rhetorischer Schätzchen ("Ruptur in der Reputation") – ist ein Highlight. Der Pseudo-Krimi dieses Sprachjongleurs ist ein Muss für Leser, die mehr erwarten als blutgetränkte Einheitskost!