Die Hexe, die Hinterwäldler, der Historiker und sein Cousin
Der Winter 1951/52 war ein meteorologischer Sonderfall, der in den Alpen Hunderte von Menschenleben forderte. Zwischen November und Januar schneite es tagelang und heftig, die gewaltigen Schneemengen gingen als unberechenbare, todbringende Lawinen in die Täler ab. Die Bewohner der Berghöfe, im Winter ohnehin oft monatelang von der Außenwelt abgeschnitten, waren den übermächtigen zerstörerischen Naturgewalten wehrlos ausgeliefert. Nur Vertrauen auf Gott, die überlieferten Weisheiten der Vorfahren und uralter Aberglaube konnten etwas Hoffnung auf Verschonung und Rettung schenken.
In die Winterlandschaft seiner Heimat Tirol führt uns der österreichische Autor Gerhard Jäger mit seinem spannenden Debütroman »Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod«. Wir begleiten einen seiner beiden Protagonisten, den jungen Historiker Maximilian Johannes Schreiber, der aus Wien angereist ist, um in einem abgelegenen Bergdorf Nachforschungen anzustellen. Für seine Doktorarbeit zum Thema Hexen möchte er den ein Jahrhundert zurückliegenden Fall der Katharina Schwarzmann recherchieren. Die Frau, als Hexe verschrieen, war in ihrem Haus verbrannt, ohne dass ihr irgendjemand zu Hilfe geeilt wäre. Im Gegenteil – es wird sogar berichtet, dass die Dörfler sie an der Flucht gehindert, ihr die Tür versperrt hätten.
Auf die Mitarbeit der Einheimischen kann der Doktorand von Anfang an nicht zählen. Einerseits verhält er sich selbst ungeschickt, fällt mit der Tür ins Haus, reißt unangenehme alte Wunden auf, holt längst verdrängte Schuldfragen ans Tageslicht, andererseits sind die Dorfbewohner von Natur aus misstrauisch gegenüber Fremden, wollen nach ihrer harten Arbeit ungestört im Wirtshaus Karten spielen und sich nicht als dumme Hinterwäldler und Hexenverbrenner in den Dreck ziehen lassen. Bald schlagen Max offene Feindschaft und Aggression entgegen.
Wenn er noch etwas erreichen will, muss Max sich anpassen. Er fügt sich also in das harte, arbeitsreiche Leben im Dorf, in Feld, Wald und Flur ein, um die Menschen und ihre Eigenarten zu beobachten. Je mehr der rationale Wissenschaftler erfährt, desto weniger kann er sich dem Sog alter Geschichten entziehen. Er sieht den schwarz glänzenden Teufelsstein, hört vom bösen Blick der »Gertraudi«, die »die Toten über den Hügel gehen sieht«, lauscht der Sage von der »saligen Frau«, die in ihrem Eispalast im Gletscher lebt und sich nur selten einem Sterblichen zeigt. Selbst der Pfarrer, der all diesem Humbug kein Fünkchen Glauben schenkt, räumt Max gegenüber ein, dass er Dinge erlebt habe, die er nie für möglich gehalten hätte.
Wie vernichtend der Winter die ganze Region treffen werde, ahnt noch keiner. Wie immer stimmt der besonnene Dorfvorsteher die Männer in der Gaststube auf die ratsamen, arbeitsreichen Vorsichtsmaßnahmen ein. Max, der außenstehende Beobachter, spürt, wie ernst die Lage ist, und sieht auch eine Chance, endlich seinem demütigenden Ruf als Großstadt-Schwächling etwas Mannhaftes entgegenzusetzen. Er wird sich seine Anerkennung verdienen, zupacken, die Schaufel schwingen, Seit' an Seit' mit den starken Tirolern den Schnee von den Zuwegen räumen und die Dächer von den drückenden Lasten befreien. Ein schmerzender Rücken und Blasen an den Fingern werden ihn nicht abhalten.
Eines Tages kommt es zu einer unheimlichen Begegnung im Wald. Zwischen wirbelnden Schneeflocken taucht eine junge Frau auf, ein schützendes rotes Tuch tief in ihr Gesicht gezogen und eine schwere Tasche schleppend. Ein flüchtiges Nicken, sie entschwindet wieder, Max folgt ihren Spuren, blickt erneut in ihre dunklen Augen, bietet seine Hilfe beim Tragen an, doch sie schüttelt nur vehement den Kopf. Max spürt den Zauber, ist elektrisiert, und seine Sehnsucht nach der Unbekannten verdrängt die Erwägung, das rückständige Dorf hinter sich zu lassen und zu den Annehmlichkeiten Wiens zurückzukehren. Obwohl die geheimnisvolle Frau für ihn unerreichbar bleibt, wird sie sein Schicksal bestimmen, bis sich seine Spuren im endlosen Weiß der Schneemassen verlieren.
Gut fünfzig Jahre später sucht John Miller aus Amerika nach den Spuren, die von Max, seinem verschollenen Cousin, noch aufzufinden sind. Denn der fiel damals in den Bergen wohl einem Mord zum Opfer. Im Landesarchiv in Innsbruck sind nur wenige Polizeiakten eingelagert, der Großteil wurde bei einem Brand vernichtet. Immerhin kann John das Manuskript studieren, das Max aufgesetzt hatte.
John Millers nicht weniger bewegender Lebenslauf ist der zweite Handlungsfaden dieses gelungenen alpinen Heimatromans. Auch der zweite Protagonist stammt aus Österreich. Aber seine geliebte Frau Rosalind hatte einen Faible für Indianer. Deshalb reisten die beiden zum Beispiel zum Little Bighorn in Montana, wo Sitting Bull das 7. US-Kavallerie-Regiment des Generals Custer besiegt hatte. Rosalind kam bei einem grauenhaften Unfall ums Leben. Zwölf Jahre später wird es höchste Zeit, dass der mittlerweile achtzigjährige Witwer endlich dem Ereignis nachgeht, das seit Jahrzehnten im Ungewissen schlummert: Kann er nach so vielen Jahren noch die Wahrheit über den mysteriösen Todesfall aufdecken?
Der Autor arrangiert die beiden Handlungsstränge auf ihren zwei Zeitebenen alternierend, aber ziemlich parallel, bis sie schließlich zusammenfinden. Johns Gedanken kreisen immer wieder um seine Vergangenheit, während er in die Polizeiunterlagen und das Manuskript seines Cousins eintaucht. Letzteres berichtet teils in der Vergangenheit, teils im Präsens, erzählt mal in der 3. Person, mal aus der Ich-Perspektive. Im Präsens nimmt das Erzähltempo zu, der Erzähler wirkt gehetzt, und der Leser kann sich den Dramen der übewältigeden Furcht der Menschen, der lebenbedroheden Natukatastrphe, des uausweiclichen Unheils, das die Dörfer überrollt, kaum entziehen.
Ein gelungener, sprachlich sehr ansprechender, eindrinlicher Debüroman, den ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2017 aufgenommen habe.