Ein Stadtmensch im Walde
von H.D. Walden
Ein Großstädter flieht vor der Pandemie aus der Lockdown-Metropole in eine Behausung im Wald. Dort weht ein ganz anderer Wind, und es dauert ein Weilchen, bis er damit vertraut wird.
Billige Flucht
Eine Zusammenfassung gleich vorweg: Dies ist ein unterhaltsames kleines Büchlein mit ganz amüsanten, teilweise interessanten Berichten über einige Lebewesen aus Fauna und Flora des Ruppiner Waldes sowie mit persönlichen Impressionen und Erfahrungen des Autors im Umgang mit denselben. In heiterem, gern staunendem Grundton vermittelt er allerlei Wissenswertes und regt zum Nachdenken darüber an, wie weit so ein Städter wie er doch von der Natur entfernt lebt (nicht nur räumlich). Unterm Strich ist die Bilanz der Lektüre etwas dürftig.
Im Frühjahr 2021 schwappte gerade die x-te Corona-Welle über Deutschland, und ein buntes Bündel von Maßnahmen sollte das Schlimmste verhindern, darunter gar ein »Lockdown«. Linus Reichlin, freier Schriftsteller, kann es sich – im Gegensatz zu seiner Freundin, die als Krankenschwester im Gesundheitswesen direkt gefordert ist – erlauben, einfach aus der »Abriegelung« auszubüxen. Praktischerweise besitzt die Freundin eine Datsche im Wald- und Seengebiet des Ruppiner Landes, und dort sucht der Autor für ein paar Wochen Asyl.
Um im Bild zu bleiben: Es sind die Tiere und Pflanzen, das gesamte Ensemble der Natur, das dem Geflüchteten (nolens volens) Asyl gewährt. Der platzt ohne viel Ahnung in das Zielland. Weder kennt er die Lebensgewohnheiten der Einheimischen noch deren Spielregeln noch deren Sprache, und umgekehrt haben die Tiere womöglich noch nie in ihrem Leben so eine merkwürdige Kreatur erblickt. Aber sie wissen alle, dass man in so einer Situation besser erst einmal Vorsicht walten lässt. Als sich der aufrechte Zweibeiner wohl bei ihnen beliebt machen will und für sie auf seiner Terrasse mit allerlei Körnern, Würmern und derlei Delikatessen das »Restaurant Zur verrückten Kuh« einrichtet, werden die Vorbereitungen aus sicherer Entfernung kritisch beäugt, und nur äußerst zögerlich wagen sich die gefiederten Gäste einer nach dem anderen an den gedeckten Tisch.
Dank seiner schieren Größe und Geisteskraft braucht der Migrant dagegen keine existentiellen Ängste zu empfinden. Zwar ist er auf sich selbst gestellt, aber ums Überleben kämpfen muss er keineswegs. Seine mit allerlei Errungenschaften der Zivilisation gesegnete Hütte (inklusive Amazon-Belieferung und Netflix) ist in der kargen Umgebung purer Luxus. Befreit von elementaren Nöten hat der Mensch alle Zeit der Welt und jede Freiheit, seinen spontanen Neigungen nachzugehen. Erfreulicherweise werden diese bei unserem Autor von Aufgeschlossenheit, Neugier und Wissbegierde getrieben. Wer rumort da so des Nachts? Was piepst da? Warum hat mich das Biest in den Finger gebissen? Er stellt Fragen, beobachtet, zieht Schlussfolgerungen, schreibt auf, ergreift schließlich das Heft des Handelns, führt kleine Experimente durch. Seine Sinne werden geschärft: Er bemerkt die Vielfalt der Vogelstimmen. Was der Geißenpeter schon als Kind durchschaute, hat das Großstadt-Hänschen allerdings nie gelernt. Dafür hat der Einöd-Hans jetzt die »Zwitschomat«-App zum Download, und schon poppt die Identität des Vogels aufs Display.
Wie es unsere Natur ist, stellt sich gar eine Wettbewerbsmentalität ein. Denn »von einem Tier ausgetrickst zu werden« können wir schlecht auf uns uns sitzen lassen, wo wir doch »fast unanständig viel intelligenter« sind. Der fatalen Ideologie folgend, dass sich ein Tierchen »gefälligst dem Menschen unterzuordnen« habe, nimmt der Autor die Herausforderung eines harmlosen kleinen Waldbewohners an (der übrigens ausländischer Zuwanderer ist wie er selbst) und legt ihm testhalber ein paar Hindernisse in den Weg.
Wie zu erwarten, beendet der urbane Blindfisch seine Exkursion in den Wald bereichert. Zwar hat er nur eine kleine Elite der dortigen Einwohner bemerkt und kennengelernt, doch wenigstens konnte er ein paar Vorurteile revidieren: Der Wald steht nicht still und schweiget, seine Bewohner sind durchaus clever und gar nicht putzig, es gibt von allen mehr als eine Sorte. Naja.
Obwohl Linus Reichlin vor der Pandemie floh, bringt er das Thema doch mit in die »Wildnis«, indem er ein paar Schlagwörter, die wir alle kaum mehr hören mögen, für Ironie und Scherzchen nutzt. Er erwähnt einen »Moment meines persönlichen Shutdowns«, witzelt, dass eine kecke Amsel den »Social-Distancing-Abstand von anderthalb Metern« nicht einhält, und Ähnliches. Lustig gemeint, ich weiß, aber über dieses Thema kann ich nicht mehr schmunzeln. Auch nicht lustig, einfach nur naiv ist die Erkenntnis, die einem Bewohner des urbanen Hochhausdschungels offenbar erst nach einem mehrwöchigen Urlaub im Walde aufscheint: »Da ich mich durch die Seuche durchaus vom Tod bedroht fühlte, bekam ich zum ersten Mal eine Ahnung von der Lebenswelt dieser Vögel. Für sie war der Tod zu jeder Stunde eine noch sehr viel konkretere Gefahr als für mich das Virus. Bei allem, was sie taten, ging es ums Überleben.«
Ein ganzes Stück unter ihren Möglichkeiten bleiben leider auch die neun Illustrationen (Tiere, Pflanzen) von Elisa Rodriguez Scasso. Im Original könnten es feine Aquarelle sein, da sie aber in Schwarz-Weiß gedruckt sind, ist ihnen ein Gutteil ihrer Leichtigkeit genommen.
Das passt alles schön und gut zum Anspruch eines grün angehauchten, seicht plätschernden Beitrags zwecks Verständnis unserer Mutter Natur, nicht aber zu dem literarischen Gimmick, den Linus Reichlin sich erlaubt, indem er sich den Aliasnamen »H.D. Walden« verleiht. Wenn wir mal von der Kalauer-Option Wald/Walden absehen, kombiniert das Pseudonym die Initialen des amerikanischen Schriftstellers Henry David Thoreau (1817-1862) mit dem Titel von dessen Hauptwerk »Walden«. Das kann man als (selbstironische?) Hommage an ein großes Vorbild verstehen, doch zwischen beiden Männern und ihren Werken liegen Welten. Reichlin ist gebürtiger Schweizer, hat Wohnsitze in der Schweiz und in Berlin und ist durch Erzählungen, Sachbücher, Kolumnen, Belletristik und Kriminalromane bekannt geworden. Thoreau zog sich mit 28 Jahren in die einsamen Wälder von Massachusetts zurück und verbrachte gut zwei Jahre in einer Blockhütte am Walden-See (bei Concord), um eigene Antworten auf die Fragen der menschlichen Existenz zu finden. Die Erkenntnisse aus seinen Reflexionen und Beobachtungen schrieb er in dem Buch »Walden: or Life in the Woods« (»Walden: oder Leben in den Wäldern« ) nieder, das zu seinen Lebzeiten nur 2000 Käufer fand, aber mit seinen bis heute aktuellen und lesenswerten Botschaften Kapitalismus-Kritiker, Fortschritts-Skeptiker, die Civil-Rights-Bewegung, die »Achtundsechziger« und Umweltschützer bis hin zur Extinction Rebellion maßgeblich beeinflusst hat. Vielleicht auch Linus Reichlin.