Der Geist von Tiger Bay
von Nadifa Mohamed
Die triste Geschichte eines armseligen Einwanderers, den man in Cardiff wegen Mordes verurteilt und hängt. Er war unschuldig.
Geist und Ungeist
Siebzig Jahre ist es her, dass in Cardiff (Wales) zum letzten Mal die Todesstrafe vollzogen wurde: am 3. September 1952. Zwölf Jahre später fand die letzte Hinrichtung im Vereinigten Königreich statt. Weitere zwei Jahre vergingen, bis diese irreversible Bestrafung im Land per Gesetz abgeschafft wurde. 1969 erhärteten sich Zweifel an der Täterschaft des walisischen Gehenkten, sein Fall wurde wiederaufgenommen, sein Leichnam 1996 an die Familie für eine bürgerliche Bestattung freigegeben, aber erst 1998 wurde der Mann – ein Farbiger – offiziell rehabilitiert.
Die Schriftstellerin Nadifa Mohamed erzählt die Geschichte dieses Opfers eines Justizirrtums mit Todesfolge in ihrem dritten Roman »The Fortune Men« . Wie die Autorin, die 1984 als Dreijährige mit ihren Eltern nach England kam, stammt Mahmood Hussein Mattan aus Somalia (zu seiner Jugendzeit noch Britisch-Somaliland). Er kehrt seinem geteilten, unruhigen, armen Heimatland, das erst 1960 unabhängig werden durfte, den Rücken und heuert auf Handelsschiffen an. Schließlich geht er 1949 in Cardiff an Land, wo er auf eine bessere Zukunft hofft.
Doch sind Leute wie er im gebeutelten Großbritannien der Nachkriegszeit nirgendwo willkommen, schon gleich nicht in der walisischen Hauptstadt. Im Hafenviertel Tiger Bay sammeln sich Migranten aus dem britischen Kolonialreich, Fremde aus aller Welt mit unterschiedlichen Kulturen und Religionen, dazu europäische Holocaust-Überlebende, und alle ziehen Hass und Neid der xenophoben Einheimischen, die selbst um ihre Existenz kämpfen müssen, auf sich. Die Zuwanderer hausen in heruntergekommenen Reihenhäusern oder elenden Gemeinschaftsquartieren und schlagen sich im Rahmen der Gesetze oder auch nicht durch, so gut sie können. Der Überlebenskampf mündet täglich in robuste Prügeleien, vor allem wenn alkoholisierte Waliser nach einem Rugbyturnier ihre Fäuste auf das angeschwemmte menschliche »Treibgut« loslassen. Nicht weniger zimperlich ist die Polizei, wenn sie einen pöbelnden Farbigen zu Tode prügelt.
Um hier zu überleben, ist es ratsam, nicht aufzufallen. Diese Devise hat sich Mahmood Mattan schnell zu eigen gemacht. Er lernt, so zu gehen, »wie ein Schwarzer in Cardiff gehen muss«, er »perfektioniert, sich unsichtbar zu machen«, und so nennt man ihn »den Geist«.
Unter der Decke der Unauffälligkeit führt Mahmood freilich ein durchaus umtriebiges Leben. Mit Aushilfsjobs, mit kleinen Diebereien, mit Pokern und Rennbahnwetten hält er sich über Wasser. Doch das schnell verdiente Geld reicht meist nicht einmal für die Miete. Eine ungewöhnliche Chance eröffnet sich ihm durch die Liebe. Schon kurz nach seiner Ankunft in Cardiff hatte er Laura, eine Weiße, kennengelernt. Ihre gegenseitige Liebe auf den ersten Blick verstößt zwar gegen alle Konventionen, trägt aber so weit, dass die beiden heiraten, eine Familie gründen, drei Kinder bekommen, bis Laura den unsteten Mann aus der Wohnung wirft. Seine Anhänglichkeit hält ihn in einem gemieteten Drecksloch, von wo aus er seine geliebte Familie wenigstens aus der Ferne sehen kann. Manchmal traut er sich zu einem Besuch hinüber.
Am 6. März 1952 biegt Mahmood Hussein Mattans Lebensweg in eine kurze Sackgasse ein, aus der es für ihn keine Wiederkehr gibt. Im quirlig-bunten Hafenviertel betreibt eine fleißige jüdische Familie, die den osteuropäischen Pogromen entkommen war, ein kleines Geschäft. Kurz nach Ladenschluss bittet an jenem Abend ein dunkelhäutiger Mann um Einlass, die Inhaberin lässt ihn eintreten, und kurz danach findet man sie mit durchgeschnittener Kehle. In der Kasse sollen einhundert Pfund gefehlt haben. Die Polizei ermittelt auf Grund einer Zeugenaussage schnell einen Schuldigen und verhaftet den Somalier.
Mit überzeugendem Realismus und aufwühlender Empathie schildert Nadifa Mohamed die Haftzeit des Beschuldigten. Trotz aller bereits erlittenen Demütigungen und rassistischen Anfeindungen ist er noch immer voller Vertrauen, dass das uralte britische Rechtssystem, dem er nun ausgeliefert ist, unerschütterlich in einer hochstehenden Zivilisation verankert sei, objektiv Indizien und Aussagen abwäge und schließlich wahre Gerechtigkeit schaffe. Am Ende des Prozesses werde seine Unschuld bewiesen sein, und so beteuert er sie bis zuletzt inbrünstig. Sein naiver Glaube geht so weit, dass er nicht einmal das Geheimnis seines Alibis ausspielen zu müssen glaubt.
Die Realität ist eine andere. Chief Detective Inspector Powell bringt die bittere Wahrheit auf den Punkt: »Sie werden hängen, ob Sie’s waren oder nicht.« Für den Gefängnisarzt ist der Mensch Mahmood nach eingehenden Untersuchungen nicht viel mehr als »ein gesundes negroides Individuum, lebhaft, bei guter Gesundheit, hervorragendes Gebiss«. Kann oder will der Angeklagte nicht wahrhaben, wie windig die »Beweise« sind, die gegen ihn hervorgekramt werden, wie rassistisch Polizei und Öffentlichkeit geprägt sind, wie wenig die Justiz sich um sorgfältige Ermittlung schert, dass er schlichtweg vorverurteilt und chancenlos ist?
Glücklicherweise gehen sowohl der Autorin als auch der Übersetzerin Susann Urban und den Verlagsverantwortlichen Authentizität und Wahrhaftigkeit vor vorauseilender Selbstzensur zugunsten ideologischer Korrektheit. Sie verwenden das Vokabular, das untrennbar zu der Zeit und den Charakteren des Geschehens gehört, auch wenn es manch heutige Lesende unerträglich finden mögen. Auch eine große Zahl arabischer und somalischer Ausdrücke ist übrigens fester Bestandteil des alltäglichen Sprachgebrauchs der Personen. In einem sechseinhalbseitigen Glossar am Ende des Buches werden sie erklärt, was aber ständiges Blättern erfordert. (Fußnoten wären eine lesefreundlichere Lösung gewesen.)
Unter diesen Vorzeichen ist im Gerichtsprozess keine Wendung zu erwarten. Da treten Zeugen auf, die für eine ausgesetzte Belohnung aussagen, was genehm ist, und unengagierte, voreingenommene weiße Richter und Geschworene lassen sich leicht überzeugen. Was kann das unbeholfene Wort eines Mannes, der nicht lesen und schreiben kann und des Englischen kaum mächtig ist, da ausrichten? Selbst sein Pflichtverteidiger hält seinen Mandanten für »halb Naturkind, halb zivilisierter Wilder«. Mahmoods Gnadengesuch an Elizabeth II., die Anfang 1952 den Thron bestiegen hatte, wird schnell abgewiesen.
Zwar überfallen Mahmood gelegentlich kurze Phasen der Wut und der Verzweiflung. Dann tobt er in seiner Zelle und vertraut Gott, den er längst vergessen hatte, sein Schicksal an, damit er alles zum Guten wende. Doch insgesamt bewahrt er eine verwunderliche Zuversicht, macht Pläne, nimmt sich gute Vorsätze für die Zukunft. Die wichtigste, wenn nicht einzige äußere Stütze ist seine Ehefrau Laura, die ihm loyal zur Seite steht, ihn mit den Kindern im Gefängnis besucht und weiß, dass ihr Mann ein Herumtreiber, aber ein liebevoller Familienvater und ganz sicher kein Mörder ist.
Nichts von alledem bewahrt ihn vor der Hinrichtung, und es muss fast ein halbes Jahrhundert vergehen, bis ein britisches Gericht einen Justizirrtum eingesteht.