Die Enkelin
von Bernhard Schlink
Mit siebzig erfährt Kaspar Wettner, dass er eine Enkelin hat, hervorgegangen aus einer verschwiegenen außerehelichen Beziehung seiner verstorbenen Frau. Das Mädchen ist in einer völkischen Dorfgemeinschaft aufgewachsen. Spät nimmt sich der Großvater ihrer Erziehung an.
Ein spätberufener Aufklärer
Aus einem Manuskript im Computer seiner verstorbenen Frau Birgit erfährt der Berliner Buchhändler Kaspar Wettner von den Geheimnissen, die sie zeitlebens vor ihm gehütet hatte. Nach langen Jahren des körperlichen und psychischen Verfalls war Birgit Wettner 2015 in der Badewanne ertrunken, wo ihr Mann sie leblos vorfand. Er braucht eine ganze Zeit, um das dramatische Ereignis zu verarbeiten, bis er endlich die Kraft aufbringt, ihren Nachlass zu sichten. In ihren Unterlagen stößt er auf ihm unbekannte Recherchen über Waisenkinder in der DDR, über jugendliche Gruppengewalt in Skinhead- und Faschogruppen, über die Karriere eines Parteifunktionärs und Leiters von Studentenbrigaden, dazwischen ein verblasstes Foto des Funktionärs inmitten einer Gruppe junger Leute, darunter Birgit in Arbeitskittel und Kopftuch. Im Rückblick wird nun die Vergangenheit des Paares aus ihren beiden Perspektiven aufgedeckt.
Kaspar wechselt im Sommersemester 1964 aus dem Rheinland nach Berlin. Er will im Zentrum des Ost-West-Konflikts leben. Die permanent von beiden Seiten propagierten Unterschiede sind ihm geläufig; er sucht dagegen etwas Verbindendes, »Gemeinsames«. Sein Antrag, an der Ost-Berliner Humboldt-Universität ein Semester Germanistik und Geschichte zu studieren, wird jedoch aus diversen Gründen abgelehnt. Im Mai 1964 lädt die sozialistische Parteiführung zum Deutschlandtreffen der Jugend. Beim Rahmenprogramm, organisiert von der »Freien Deutschen Jugend« (FDJ), lernt er die junge Birgit kennen – »lebhaft, strahlend, schlagfertig und, anders als die anderen, nicht ideologisch borniert, sondern voller Lust am Wortgefecht«. Es war »Liebe auf den ersten Blick«.
Was Kaspar während ihres gesamten Zusammenlebens verborgen bleiben wird, ist, dass Birgit zu dem Zeitpunkt in einer festen, obendrein verbotenen Beziehung mit einem verheirateten, im politischen Kader hochgestellten FDJ-Sekretär lebt. Dass sie schwanger ist, vertraut sie nur einer einzigen Freundin an. Die soll das heimlich zur Welt gebrachte Kind anonym an einer Kirchentreppe ablegen, befolgt Birgits Wunsch aber nicht. So wächst das Mädchen Svenja im Hause des FDJ-lers und seiner Ehefrau auf.
Mit Kaspars Eintritt in ihr Leben scheint sich Birgit nun schnell von den politischen Indoktrinationen lösen zu wollen, um eine feste Bindung mit dem liebevollen, einsichtigen und toleranten jungen Mann aus dem Westen einzugehen. Über Prag und Wien flieht sie in die BRD. Aus ihrem Geheimnis wird eine Lebenslüge, die niemals offengelegt wird und sie zeitlebens belastet. Zwar quält sie ein Gefühl, etwas gutmachen zu müssen, nach der Tochter zu suchen, doch sie schiebt es vor sich her, unfähig, eine Initiative zu ergreifen. Weder die Flucht in eine sprirituelle Sekte noch der Griff zu Medikamenten und Alkohol können ihre seelischen Leiden lindern.
Aus der so unerwarteten wie schockierenden Erkenntnis einer immateriellen Hinterlassenschaft leitet Kaspar ab, dass er nun gegenüber Birgit eine letzte Pflicht übernehmen müsse, der sie selber nicht nachzukommen vermochte, nämlich die Suche nach dem unbekannten Mädchen und ihrem unbekannten Lebensweg aufzunehmen. Er begreift dies aber auch als Angebot, das seinem trostlosen, einsamen Dasein eine Wendung und einen Sinn geben wird.
Tatsächlich spürt Kaspar nach sorgfältiger Recherche Birgits Tochter auf. Svenja hat einen bewegten Lebenslauf hinter sich. Aus dem Haushalt des staatstreuen FDJ-Sekretärs büxte sie aus, landete als schwer erziehbares, aggressives und arbeitsscheues Mädchen in einem Umerziehungsheim, hauste danach mit kriminellen Typen und Skinheads aus der rechtsradikalen Szene in Berliner Abbruchhäusern, verschwand dann bis in die Neunziger Jahre von der Bildfläche. Schließlich heiratete sie und zog mit Ehemann Björn und Tochter Sigrun (der »Enkelin«) nach Mecklenburg-Vorpommern, wo Kaspar die etwa Vierzigjährige in einer abgeschotteten, autarken Dorfsiedlung völkischer Ausrichtung als »wohlgestaltete Matrone […] in kurzärmligem, wadenlangem blauem Kleid« kennenlernt.
Sigrun ist vierzehn Jahre alt, und in Kaspar erwacht die Vorstellung, er müsse die radikalen Ideologien, in denen die Enkelin in ihrem isolierten Umfeld aufwuchs, relativieren und ihr andere Perspektiven eröffnen. Der gemeinsame Weg soll über kulturelle Bereicherung führen, durch Theater- und Museumsbesuche mit dem Großvater während der Ferien, durch die Begegnung mit Literatur und klassischer Musik. Björn, ein feindseliger Patriarch und Neonazi-Extremist, lässt sich die zeitweise Freigabe seiner Tochter sehr gut bezahlen.
Intellektuell, weltanschaulich und musisch erweist sich die Enkelin aus problematischen Verhältnissen als ungeschliffener Diamant, als verschüttetes Genie. Sigrun zeigt großes Talent als Klavierspielerin, erhält Unterricht und träumt sogar von einer Konservatoriumsausbildung. In den Diskussionen mit dem Großvater reproduziert sie eloquent und kenntnisreich, was man ihr gepredigt hat – von Hitlers Streben nach Frieden bis zur Holocaustlüge. Sie zweifelt Anne Franks Tagebuch ebenso an wie das, was sie beim gemeinsamen Besuch im KZ Ravensbrück sieht. Was sie bei solchen Gelegenheiten an Belehrungen über Wehrhaftigkeit, Volksseele, Ehre und Treue formuliert, klingt gestelzt und hört sich an wie Papierweisheiten, mit denen sie indoktriniert worden ist, aber sie sind auch weder in Ton noch Inhalt altersgemäß. Kein Scherz, kein pubertärer Ausraster, kein Mädchentraum kommt während der Monate, die sie sich intensiv mit dem Großvater austauscht, über ihre Lippen.
Mit Sigrun hat der Autor eine Kunstfigur erschaffen, die der Konfrontation gegensätzlicher Positionen dient. Der Preis dafür ist, dass dem jungen Charakter altersgemäße Züge wie Empathie, Lebhaftigkeit, Übermut und Widersprüchlichkeit fehlen. So werden wir Leser weder mit dem Großvater noch der Enkelin richtig warm.
Bernhard Schlink ist keiner, der sich mit zweckfreier Literatur zufrieden gäbe. Schon mit seinem Weltbestseller »Der Vorleser« verknüpfte er einen spannenden Plot mit historisch-politischer Aufklärung. Mit »Die Enkelin« hat er sich gleich zweier harter Brocken angenommen: dem Verhältnis zwischen Ost und West und dem Selbstverständnis von Rechtsradikalen. Als Vermittler hat er den Protagonisten und Erzähler Kaspar gestaltet, allerdings ebenso künstlich wie seine jugendliche Partnerin. Einerseits ist er aufgeschlossen gegenüber dem Gesellschaftssystem, das in Ostdeutschland etabliert wird, andererseits blind für die Ursachen der gravierenden Probleme seiner geliebten Ehefrau; einerseits engagiert er sich, seine Enkelin aus ihrem unverschuldeten Zustand der Verführung zu geleiten, andererseits ist er erschreckend blind (allzu tolerant? gleichgültig?), wenn er etwa an einer schummrig-völkischen Erntedankfeier teilnimmt und schließlich sogar in (weniger belastete) Volkslieder einstimmt. Gegenüber Björns dreisten Forderungen ist er wehrlos. Und was auch immer Sigrun auf ihrem späteren steinigen Weg anstellt: Stets steht der Opa bereit, um ihr aus der Patsche zu helfen, bis zur Selbstaufgabe.
Um den Plot durchzuziehen (beispielsweise Kaspars Kontakt zu Sigrun plausibel aufrechtzuerhalten) mögen derart aus der Realität gefallene Figuren zu rechtfertigen sein. Der Roman wird dann aber zum theoretischen Konstrukt.