Rezension zu »Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki« von Haruki Murakami

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

von


Belletristik · Dumont · · Gebunden · 318 S. · ISBN 9783832197483
Sprache: de · Herkunft: jp

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Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit

Rezension vom 19.02.2014 · 5 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Tsukuru Tazaki ist erst zwanzig und steckt schon seit einem halben Jahr in einer schweren Lebenskrise. Er studiert Ingenieurwissenschaften an der Uni­ver­si­tät Tokio, aber eigentlich interessiert ihn gar nichts mehr. Er sehnt sich den Tod herbei. Dann würde nicht nur er für die Welt, sondern auch die Welt nicht mehr für ihn existieren.

Was mag einen klugen, hoffnungsvollen jungen Mann so trübsinnig in die Welt blicken lassen? Es ist das abrupte Zerbrechen einer langjährigen Freundschaft, das Tsukuru zu schaffen macht. In der zehnten Klas­se seiner Oberschule in Nagoya hatten sie sich zufällig gefunden, die drei Jungen und zwei Mädchen, die in einer »gelungenen chemischen Verbindung« bis zum Ende ihrer Schulzeit als Fünferbande ver­schwo­ren blieben. Gleichwohl bestand in diesem »Pentagon« ein permanentes Spannungsverhältnis. Hätten sich Paare gebildet, »wäre einer zwangsläufig zum fünften Rad am Wagen geworden«. Und Tsukuru litt bestän­dig unter dieser Angst. Wenn einer fallengelassen würde, dann wohl er. Trotz vieler Ge­mein­sam­kei­ten passte er nämlich nicht ganz perfekt ins Raster. Denn die Nachnamen der anderen vier enthalten die Far­ben Rot, Blau, Weiß und Schwarz; »Tazaki« hingegen ist farblos – und Tsukuru ein lang­weiliger Durch­schnitts­mensch ohne besondere Talente und Hobbys. Natürlich weiß er, dass »es keine Frage des Charak­ters [ist], ob jemand eine Farbe in seinem Namen hatte oder nicht«, dennoch »fühlte [er] sich des­halb von Anfang an ein wenig ausgeschlossen«.

Wie eine self-fulfilling prophecy erfüllt sich seine Vorahnung – doch auf welch rätselhafte Weise! Nach­dem er seine Studien in Tokio aufgenommen hat, zieht es Tzukuru in den Ferien regelmäßig zu den Freun­den in der Heimatstadt. Allerdings lassen sie sich bald am Telefon verleugnen. Schließlich meldet sich Freund Ao und teilt im Namen aller mit, dass sie nicht mehr von Tzukuru kontaktiert zu werden wünschen; den Grund könne er sich ja selber denken.

Tzukuru ist wie vor den Kopf geschlagen. Er kann sich keinen Reim daraus machen. Aber nachzufragen traut er sich nicht. Zu tief sitzt die Angst davor, mit irgendeinem Makel, den die anderen an ihm gefunden haben, konfrontiert zu werden.

Sechzehn Jahre lang bleibt das Trauma Tsukurus Geheimnis. Der unscheinbare, introvertierte Mann ar­bei­tet in Tokio im Planungsbüro einer Eisenbahngesellschaft, als er in einer Bar Sara kennenlernt. Sie tref­fen sich wieder, Tsukuru lädt sie in seine Wohnung ein, sie haben Sex, und mit der Zeit fasst Tsukuru Ver­trauen zu Sara und gibt ein wenig von sich preis. Er erzählt ihr, warum ihn Bahnhöfe, Gleise und Züge schon als Kind so faszinierten, dass er seinen Lebensweg zur Eisenbahn ziemlich konsequent gegangen ist.

Endlich kommt er auch auf die Sache zu sprechen, unter der er so »entsetzlich« gelitten hatte, dass er sie gern für immer vergessen wollte. Sara kann nicht verstehen, dass Tsukuru der Angelegenheit niemals nach­ge­gan­gen ist und den Grund für das Ende der Freundschaft nie aufgedeckt hat. Sie hält diese Art des Ver­drän­gens sogar für »gefährlich«, denn nichts könne man »auslöschen«, »begraben« oder »rückgängig« machen, ohne »sein inneres Wesen [zu] töten«. Das möchte sie ihm ersparen, und sie verschärft ihr Drän­gen mit der Drohung, sie könne ihre Beziehung nicht fortführen, ohne dass er das »Etwas«, das sich zwi­schen sie schieben werde, aufklärt.

Da hat Tsukuru keine Wahl. Im Internet spürt er die Adressen auf und sucht dann alle Ex-Freunde einzeln und unangemeldet auf. Was sie ihm zu berichten haben und was man ihm damals nachgeredet hatte, über­trifft Tsukurus schlimmste Befürchtungen und bringt auch dem Leser einen wahren Schocker nach dem anderen.

Mit der Suche nach der verlorenen Wahrheit etabliert Haruki Murakami ein Spannungselement: Es gilt, einem folgenreichen Verbrechen auf der Spur zu bleiben. Wichtiger ist dem Autor jedoch die ambitionier­te, kunstvolle Aufbereitung seines Romans, der auch die Schlüsselsymbolik der Farben dient. Ihnen sind die unterschiedlichen Charaktereigenschaften und Vorlieben der Protagonisten zugeordnet. Auch der »Farb­lose« hat einen sprechenden Nachnamen, denn in »Tazaki« steckt die Aussage »etwas machen«, und auch er folgt diesem Design: als Bastler in Kindertagen, später als Konstrukteur.

Herrn Tazakis »Farblosigkeit« äußert sich in einer falschen Wahrnehmung seiner selbst, einem Mangel an Selbstvertrauen, den weder der erfolgreiche Werdegang noch die tragfähige Beziehung zu Sara beheben kann. Er vergleicht sich mit einer Form ohne Inhalt, leidet unter der beständigen »Angst, dass ich etwas Falsches sage oder tue ... und [Sara] sich in Luft auflöst«. Von Beziehungsängsten gepeinigt, schränkt der homo faber sein Sozialleben ein, meidet die Menschen.

Mit dem Leitmotiv der inneren Leere verknüpft Murakami musikalische Themen. Insbesondere Franz Liszts »Années de pèlerinage« (»Pilgerjahre«) und daraus speziell »Le mal du pays« stimmen Tsukuru tief melan­cho­lisch und einsam.

Erst eine Freundin aus der Clique öffnet ihm die Augen: »Und selbst wenn du ein leeres Gefäß bist, was macht das schon? Dann bist du eben ein ganz wunderbares, attraktives Gefäß. ... Es genügt doch, ein Ge­fäß mit einer wunderschönen Form zu sein. Das so unwiderstehlich ist, dass man unwillkürlich Lust be­kommt, etwas hineinzutun.« Die Botschaft ist schlicht (So tröstet Mutti ihr Kind, nachdem es seine erste Fünf kas­siert hat.), die Metapher ist altbacken und holprig (Will man hübsche Kästchen füllen?), die Kü­chen­the­ra­pie naiv, aber doch so gut gemeint, dass der Patient darauf anspringt. Eine weitere merk­wür­di­ge Metapher, diesmal immerhin aus seinem Metier (»Also baust du zuerst mal einen ganz be­son­de­ren Bahn­hof für Sara. Einen Bahnhof, an dem die Züge unbedingt halten wollen, auch wenn es nicht geplant ist.«), bestärkt ihn, dass er schon bald »der wunderbare farbenfrohe Tsukuru Tazaki« sein werde.

Die Menschen in Haruki Murakamis Roman »Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki« (Ursula Gräfe hat ihn übersetzt) sprechen viel von ihren Gefühlen. Die Sehnsucht nach Harmonie, Geborgenheit und Liebe wird überschattet von Verletzlichkeit, Herzschmerz und tiefer Traurigkeit. Dennoch springt erstaun­licher­weise kein heißer Funke über. Die Stilisierung der Figuren entzieht sie zu stark der Realität, das Stre­ben nach Perfektionismus der Form kühlt den Inhalt zu sehr ab, wahre Empathie bleibt aus. Man liest den Roman eigenartig berührungslos; er bleibt nachhaltig im Gehirn haften, doch das Herz erreicht er nicht.


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