
Rätselhafte Wesen
Dem Himmel sei Dank. Sie sind bloß Kunstfiguren, die Männer, die in den sieben Erzählungen von Haruki Murakami eine seltsam triste Existenz führen. Ganz ohne Frauen müssen sie zwar nicht auskommen, aber sie kommen mit denen, die sie haben, irgendwie nicht richtig zusammen. So verzweifeln sie schier an ihrer Isolation, an fehlender oder falscher Liebe, und es kann sie nicht trösten, dass es ein genialer Autor war, der sie mit verstörender Fantasie und täuschender Schlichtheit in diese Lage gebracht hat.
Es sind merkwürdige, jedenfalls bemerkenswerte, leicht skurrile Exemplare der Spezies Mann, die der Autor uns vorstellt: in der Welt durchaus erfolgreich, aber äußerlich unauffällig, im Wesen farblos bis zur Langeweile, mal unternehmungslustig, mal nachdenklich, mal »nicht ein Hauch von Gefühl«, mal melancholisch und wehleidig in ihrer Krise.
Herr Kafuku etwa, 47 und erfolgreicher Schauspieler, hat nach zwanzig Ehejahren seine Frau verloren. Sie war sehr schön, ebenfalls Schauspielerin, und bis zu ihrem Tod war er ihr in Liebe treu. Sie hingegen, das wusste er mehr »intuitiv« als faktisch, hatte mindestens vier jüngere Liebhaber. Obgleich unerträgliche Bilder von ihr und den anderen Männern wie Messer in sein Innerstes drangen, hatte er ihr nie die Frage nach dem Warum gestellt, schon gleich nicht im Angesicht ihres nahenden Krebstodes. Stattdessen gab er im Privatleben eine weitere Rolle in einem »Theaterstück ohne Publikum«: ein belangloses, durchschnittliches Eheleben, »als wäre nichts«. »Er gab sein Bestes«, aber das ungelöste Geheimnis quält ihn bis heute.
Kafukus emotional belastendste Rolle erwartet ihn, als er den letzten Ex-Sexpartner seiner Frau kennenlernt. Herr Takatsuki (40, unglücklich verheiratet, ein Kind) ist ebenfalls Schauspieler, allerdings »ein zweitklassiger«, nur »geeignet für die Rolle des Liebhabers«. Als »gleichgesinnte Trinkkumpane« treffen sich die Männer regelmäßig in einer Bar und sprechen über Frauen im Allgemeinen und über ihre ganz besondere(n) Partnerin(nen) im Speziellen. Als vermeintlich Unwissender nähert sich Kafuku dem Rivalen an, um seine Schwachpunkte aufspüren und ihn dann in den Abgrund stürzen zu können.
Doch der befindet sich längst am Boden. Noch immer in Liebe befangen, berichtet er seinem Zuhörer mit Tränen in den Augen, dass seine Geliebte ihn unvermittelt abserviert habe. Dass er, als er von ihrem tödlichen Leiden erfuhr und sie am Krankenbett besuchen wollte, erneut abgewiesen wurde, zerreißt ihm förmlich das Herz.
Auch Kafuku bedauert, seine Liebste nicht verstanden zu haben. Takatsuki zeigt aufrichtiges Mitgefühl. Seien nicht alle Männer mit dieser »Art der Blindheit« geschlagen? »Wir können doch nie ganz verstehen, was im Kopf einer Frau vorgeht.« Indem die beiden Männer ohne Frau einander Trost spenden, verblasst zwar Kafukus Zorn auf seinen Kontrahenten, doch bleibt in seinem Herzen der Stachel, den seine Frau mit ihrer Beziehung zu so einem banalen Mann gesetzt hat. Was war nur ihr Motiv?
Keine Antwort auf diese quälende Frage, aber Anregung durch ein weiteres Exemplar des rätselhaften Geschlechts findet Kafuku, als er vorübergehend seine Fahrerlaubnis verliert (Alkohol, Augenprobleme, Auffahrunfall ...) und man ihm Misaki Watari als kompetente Chauffeurin empfiehlt. Das vierundzwanzigjährige »Raubein« vom Lande ist keine Augenweide (kräftiger Körperbau, Akne-Narben, Ohren wie »Radarschüsseln«), aber fügsam, unaufdringlich und eine gute Zuhörerin. Sie braucht ihren Arbeitgeber nur allabendlich zum Theater zu bringen und nach der Vorstellung wieder abzuholen. Während der Fahrt studiert Kafuku seine Rollen ein oder hört amerikanische Oldies, aber indem sich stille Vertrautheit einstellt, spricht man auch miteinander. Einmal fragt sie ihn, ob er denn eine Frau, einen Freund habe? Und Herr Kafuku berichtet Misaki freimütig ...
Schönheitschirurg Dr. Tokai muss auch leiden. Dabei treibt es der 52-Jährige absichtsvoll nur mit verheirateten Frauen – da hat er keinen Stress, keine Verantwortung. Als er sich aber unsterblich in eine wesentlich jüngere Frau verliebt, erwischt es ihn am Ende doch, obwohl sie verheiratet war. Denn wie alle Frauen ist sie »von Geburt an« mit einem »eigenständigen Lügenorgan« ausgestattet. Nach kurzem Vergnügen legt sie ihn ab wie einen getragenen Schuh. Dr. Tokai leidet Liebesqualen, verweigert jegliche Nahrungsaufnahme, bis er am Ende, wie einst der Suppenkasper, nur ein halbes Lot wiegt und stirbt. Er hat sich selbst aufgelöst.
Haruki Murakamis Geschichten (übersetzt von Ursula Gräfe) wirken wie verbalisierte japanische Tuschezeichnungen. Seine Erzählungen fließen abgeklärt, unaufgeregt und schmucklos dahin, ironiefrei und sachlich, so dass man sich auf festem Grund wähnt. Je weiter man voranschreitet, desto stärker kommt Unsicherheit auf, als bewege man sich im Sonnenlicht auf dünnem Eis. Der Boden glänzt matt; aber was mag unter der milchig durchscheinenden Oberfläche lauern? Ist da nicht ein Riss? Eine Realität, auf der man leicht ausrutschen kann.
Das ist die Welt, in der Murakamis Figuren zurecht kommen müssen. »Kafuku glaubte fest an die Überlegenheit der Wahrheit.« »Nur durch Wissen erlangte ein Mensch Stärke.« Doch Wahrheit und Wissen sind so wenig erreichbar, wie das Wesen der anderen und ihre Beziehungen untereinander durchschaut werden können. Die Personen sind miteinander verknüpft und kommen doch nicht zusammen, als wären sie durch dünne Reispapierwände getrennt. Verdachte, Fragen, Zweifel, Fragmente ... Alle Überlegungen bleiben letzten Endes spekulativ. Wenn nicht mehr an Wahrheit erhältlich ist als ein banales, resignatives »Manchmal tun Frauen so etwas«, dann bleibt der Mensch schwach, und »uns bleibt nichts anderes übrig, als mit uns selbst ins Reine zu kommen.«
Die meisten Geschichten »Von Männern, die keine Frauen haben«, stehen auf dem Boden einer fassbaren Realität. Die vorletzte aber (»Samsa in Love«) hebt ab und nimmt sich Ahnherr Franz Kafka direkt vor. Unter Wiederverwendung zahlreicher Originalmotive und -formulierungen dreht Murakami die »Verwandlung« auf aberwitzige Weise um: »Als er erwachte, fand er sich in seinem Bett in Gregor Samsa verwandelt. Auf dem Rücken liegend schaute er an die Zimmerdecke. Es dauerte eine Zeit lang, bis seine Augen sich an das Halbdunkel des Zimmers gewöhnt hatten.« Ex-Käfer Gregor, ohne die Spur einer Erklärung in eine Menschenexistenz geworfen, muss wie sein literarisches Gegenstück lernen, sich darin zu arrangieren. Die Angst vor Vögeln sitzt noch tief, der weiche, fragile, blasse Körper ist ungewohnt und mühselig zu bewegen, und wie man mit Kleidung umgeht oder das drängende Hungergefühl mit Messer und Gabel besänftigt werden soll, sind zwei der vielen Fragen, die ihn beunruhigen.
Schon schrillt die Türglocke. Eine kleine, verkrümmte junge Frau mit Buckel bittet forsch um Einlass. Man habe sie bestellt, ein Türschloss instandzusetzen; sie habe sich pflichtbewusst auf den gefährlichen Weg durch Prag gemacht. »›Die Welt fällt in Trümmer‹ – was das wohl hieß? Gregor Samsa hatte keine Ahnung. Ausländische Truppen, Kontrollpunkte, Panzer ... Alles ein Rätsel.«
Ein Rätsel sind ihm auch die wiederholten ruckartigen Schraubbewegungen des buckligen Mädchens (Aus welcher Hieronymus-Bosch-Zwischenwelt mag sie ersonnen sein?). Ihre Begründung hilft ihm nicht, da er die entscheidende Vokabel darin (»BH«) noch nie gehört hat. Während er ihr bei der Arbeit zuschaut, steigt eine »wunderbare Wärme in seinem Herzen« auf, und das eigenwillig geformte Geschlechtsteil zwischen seinen Beinen beginnt ein unbegreifliches Eigenleben ... Aber da sie über Gregor ebenso wenig weiß wie er über sie, verwundert es nicht, wenn sie glaubt: »Als Frau hat man es schwerer, als Sie es sich jemals vorstellen können.« Frauen, die keine Männer haben, sind halt ebenso unvollständig wie Männer, die keine Frauen haben.