
Wenn man niemanden mehr fragen kann
Am Hauseingang fragt Ruth ganz unternehmungslustig: »Gehen wir hier rein? Hier war ich noch nie. Wollen wir mal sehen, was uns da drinnen erwartet?« Es ist der Eingang zu ihrem Zuhause, seit Anne Johanne, die jüngere Schwester der Erzählerin, Ruth vor sechs Monaten hierher gebracht hat. Damals widmete sich Ruth liebevoll Klein-Wau, dem Liebling in ihrem Arm.
Das abgewetzte Plüschtier stammt aus dem Jahr 1938; Ruth wurde drei Jahre zuvor geboren. Wer ist sie jetzt, nach siebzig und ein paar Jahren? Ob sie sich noch an Høn erinnert, das Haus, in dem sie Jahrzehnte lang mit ihrer Familie gewohnt hatte? Oder beschäftigt sie nur noch, was sie gerade umgibt? Ist sie womöglich nicht mehr als eine luftige Hülle, durch die die Zeit hindurch rauscht, ohne auch nur eine Bewegung zu hinterlassen? Selbst ihre älteste Tochter Cecilie, die Autorin, fühlt sich immer häufiger wie »irgendein beliebiger Mensch«, der in Mutters Bewusstsein kommt und geht, bis sie demnächst ganz verschwunden ist.
Was bleibt Cecilie da noch anderes als rudimentäre Kontakte zu suchen – Mutters »Hand halten«, ihren »verängstigten Blick erwidern«? Mit jedem Besuch wächst Cecilies innere Leere, verstört sie »ein taubes Fehlen von Gefühlen«, erkennt sie den unausweichlichen Verlust der familiären und der eigenen Vergangenheit: »Ach, Mama, ich kann dich gar nichts mehr fragen.«
So wenig ist geblieben von einer engagierten, kämpferischen Frau, Mutter von drei Kindern, einer furchtlosen »Neinsagerin« (»Nein zur Stilllegung von Dorfläden, Nein zu verkehrsgefährlichen Schulwegen, Nein zu Noten in der Schule, Nein zu neuen Wasserkraftwerken«). Das rote Damenfahrrad, mit dem sie allmorgendlich zur Grundschule fuhr, wo sie als Sekretärin arbeitete, war ihr Markenzeichen. Über die hitzig geführte politische Debatte über Norwegens Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft zerbrach 1971 ihre Ehe mit Finn, in leitender Position beim Elektro- und Maschinenbaukonzern NEBB.
Und doch hat Ruth einen wahren Schatz hinterlassen, wie Cecilie beim Ausräumen des elterlichen Hauses Høn für den anstehenden Verkauf feststellt. In einer alten Schublade entdeckt sie jede Menge Papiere. Neben Abiturzeugnis, ärztlichen Attesten, einer Liedersammlung zu Jubiläen, einem Poesiealbum (1942-1948) und ähnlichem fällt ihr ein Stapel karierter Schreibblätter ins Auge, »vielleicht aus einem Rechenheft herausgerissen« und von einer Büroklammer zusammengehalten.
Der Zufallsfund eröffnet Cecilie einen tiefen Einblick in den Charakter ihrer Mutter und Zugang zu ihrer gemeinsamen Vergangenheit. Es sind pingelig geführte handschriftliche Jahresübersichten seit Cecilies Geburt 1963; die letzte ist von 2003. In der ersten Spalte hat Ruth jeweils dreißig bis vierzig Namen von nahen und weitläufigen Verwandten, Freunden, Bekannten, Haushaltshilfen, Schulfreunden der Kinder usw. eingetragen. Manche hat Cecilie längst vergessen; jetzt tauchen sie aus den Tiefen ihrer Erinnerung wieder auf, zum Beispiel »die unglaublich freakigen jungen Nachbarn, die nach Gewürzen und Schweiß rochen, die im Sommer nackt herumliefen«.
In den Spalten daneben hat Mutter zugeordnet, was die Personen an kleinen oder großen, selbst gefertigten oder massenhaft produzierten Geschenken zum jeweiligen Weihnachtsfest erhalten und (falls zutreffend) gegeben haben. Cecilie hält eine riesige altmodische Prä-Excel-Datenbank mit mehreren Tausend Geschenkeinträgen in Händen, geschaffen von einer offensichtlich gut organisierten, nach Perfektionismus strebenden Frau.
Nun robbt sich die Autorin Jahr für Jahr durch die Datensätze, zieht exemplarisch Geschenke heraus, mit deren Geschichte sie ihre eigenen Erinnerungen belebt, und lässt uns Leser auf diese Weise Einblick in eine außergewöhnliche Familie nehmen.
Die Großeltern mütterlicherseits (1963: selbst genähte blau-karierte Kissen für die Küchenstühle und ein erstes Foto der Enkelin Cecilie; 1964: eine mit Kreuzstichkante gestickte hellblaue Baumwolldecke, dazu eine Räucherwurst) waren Künstler, »erhaben, originell ... wie Gottheiten für ihre zwei Kinder«. Sie führten ein Dasein »weit vor uns am Horizont«, der Rest der Familie dümpelte hinterher. Ihr Leben war »ein Schatz an Geschichten und Mythen«, aus dem Cecilie sogar für ihre Romane schöpfen kann.
Cecilie erinnert sich an den »vibrierenden Hitzedunst« ihrer Kindheitssommer im Haus der Großeltern, das sie nach einem Seefahrerroman »Rutland« genannt hatten; an das »Plumpsklo«, die »Wasserpumpe im Hinterhof«, die »Kuhglocke, die zum Essen rief«, die Diskussionen der Erwachsenen ... Cecilie fand es »spannend, dabei zuzuhören, und das Einzige, was ich damals begriff, war, dass ich nicht begriff, worüber sie da redeten«.
Es ist wunderschön, von all den liebevoll ausgesuchten Geschenken, ihren Gebern und Empfängern und den Erinnerungen, die alles umranken, zu lesen. Cecilie Enger pflegt einen anschaulichen Stil, wie er für Biografien angemessen ist – mal berichtend und sachbetont, mal szenisch-dialogisch, mal mit leichter Ironie, eher selten melancholisch. Sie ergänzt den narrativen Teil durch anregende Reflexionen, etwa die völkerkundlichen Erkenntnisse, die der französische Soziologe Marcel Mauss in seinem »Essai sur le don« (»Die Gabe«) um 1924 formuliert hat. Alle Kulturen haben Rituale des Austausches von Geschenken herausgebildet, die mit den Kategorien »Leistung und Gegenleistung« verknüpft sind. Dann bekommen »Gaben« einen Zwangscharakter, sind »zielgerichtet und nutzorientiert«, lösen eine Schuld aus.
Doch das Romankonzept hakt, es verkantet sich mit dem Perfektionismus und dem Vollständigkeitsanspruch der Liste. Im Gegensatz zu ihrer Mutter kennt die Autorin bei weitem nicht alle der darin aufgeführten Personen, weiß über viele kaum etwas zu sagen (»war Goldgräber in Amerika«, »hat nie geheiratet«), möchte aber getreu der Ambition ihrer Mutter so vielen Menschen wie möglich einen Platz einräumen und dem, was sie nicht mehr fragen kann, irgendwo nachspüren. Je weiter sie sich in abgelegenere Regionen entfernt (etwa zu Freunden der Geschwister oder den Eltern der Schwester der Großmutter ...), desto mehr Kraft und Intensität entzieht sie ihrem Roman. Für uns Leser mäandert die Erzählung dort ziellos dahin, verliert sich in den vielen Figuren, hinterlässt keine markanten Eindrücke mehr. Hätte sich die Autorin andererseits auf den innersten Kreis wirklich vertrauter Verwandter und Bekannter beschränkt, welchen Sinn hätte dann noch die Orientierung an der Liste gehabt?
Die traurige Alzheimer-Krankheitsgeschichte der Mutter gibt Anlass und Hintergrund, ist aber nicht eigentlich Thema. Wir erfahren natürlich von deren Verlauf und von den schweren Sorgen und Nöten der Angehörigen, während die einst so vitale Mutter verfällt. Diese Seiten geben reichlich Gelegenheit, über in der öffentlichen Diskussion häufig zu lesende Formulierungen wie »bekommt jeden Tag das Leben geschenkt« nachzudenken.
Die norwegische Autorin Cecilie Enger, 1963 in Oslo geboren, ist in Deutschland eher unbekannt. Nach ihrem Geschichts- und Journalismus-Studium arbeitete sie bei einer der führenden norwegischen Zeitungen und schrieb nebenbei Romane. »Mors gaver«, ihr siebtes Buch, war in Norwegen ein Bestseller und wurde mit dem Buchhändler-Preis ausgezeichnet. Gabriele Haefs hat es übersetzt.