Rezension zu »Das geheime Prinzip der Liebe« von Hélène Grémillon

Das geheime Prinzip der Liebe

von


Belletristik · Hoffmann und Campe · · Gebunden · 255 S. · ISBN 9783455400960
Sprache: de · Herkunft: fr

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Freundschaft – Liebe – Misstrauen – Hass – Rache

Rezension vom 06.03.2013 · 10 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Das ist kein kitschiger, trivialer Liebesschmalz, sondern beste, niveauvolle Unter­hal­tungs­lite­ra­tur, deren ergreifender Plot kaum fassbar ist und in einem fulminanten Schluss kulminiert. Hélène Grémillons Debut wurde ver­dien­ter­maßen mit dem Prix Robles ausgezeichnet.

Der Roman spielt abwechselnd auf zwei Zeit- und drei Erzählebenen: im Paris der Siebziger Jahre sowie während des Zweiten Weltkriegs im besetzten Frankreich.

Camille, 35, arbeitet 1975 als Verlagslektorin in Paris. Gerade hat sie ihre Mutter beerdigt; ihr Briefkasten quillt über vor Kon­dolenz­schrei­ben. Aber ein Umschlag fällt aus dem Rahmen: Er ist dicker, hat ein anderes Format und enthält einen hand­ge­schrie­benen Brief ohne Absender, ohne Briefkopf, ohne Anrede. Unterzeichnet ist er mit "Louis". Und er bleibt nicht das einzige Exemplar. Bald erreichen Camille - immer dienstags - weitere umfangreiche Schreiben dieses ihr unbekannten Mannes, und sie findet interessant, was er über sich und seine Jugendliebe Annie zu erzählen weiß:

Annie ist das einzige Kind einfacher Leute aus einem Dorf in der Champagne. Als sie 13 ist - im Jahr 1938 - bezieht ein gut situiertes Pariser Ehepaar das etwas abgelegene Herrenhaus L'Escalier. Annie, die gerne malt, freundet sich mit der nur zehn Jahre älteren Madame M. an. Die reiche, nach außen hin gelangweilt wirkende Dame des Hauses unterstützt Annie, bezahlt ihre Malutensilien, richtet ihr ein Zimmer ein und lässt sogar einen Bildhauer aus Paris kommen, um ihr Unterricht zu erteilen - eine ungewöhnliche Beziehung des Gebens und Nehmens.

Eines Tages gesteht Madame M. ihrer jungen Freundin, dass sie keine Kinder bekommen kann, da sie steril ist. Was noch heute eine schwere persönliche Belastung ist, war vor bald 100 Jahren obendrein ein beschämender ge­sell­schaft­licher Makel - als sei die Frau damit nicht vollwertig. Madame M. hat schon alles Erdenkliche ausprobiert, um ihr Schicksal zu wenden, sogar die grausam-absurden Ratschläge eines Standardwerkes von 1885 befolgt, wie die "Geißelung von Lenden, Oberschenkeln und Gesäß mit einem Birkenbesen" und "das Unerträglichste: die Urtikation, bei der ich mein Geschlecht mit Hagebutten einrieb".

Von diesen Offenbarungen ihrer Mäzenin ist Annie, die gerade ihre erste Regelblutung erlebt, restlos überfordert und verwirrt. Doch eines spürt sie: Wenn sie ein bisschen Dankbarkeit für all das zurückgeben kann, was ihr in diesem großzügigen Hause zuteil wird, dann wäre sie gern zu allem bereit.

In Madame M. keimt die Überlegung, dass vielleicht eine andere Frau ein Kind für sie empfangen und austragen könnte, und dabei denkt sie an Annie. Gleichzeitig ist sie überzeugt, dass sich alle Beteiligten verweigern würden. Wie könnte denn ihr geliebter Mann Paul bereit sein, sich mit dem jungen Mädchen zu vereinigen, wo doch seine Liebe zu Madame M. unverbrüchlich ist?

Doch der Plan wird ausgeführt. Selbst­ver­ständ­lich muss strengste Geheimhaltung gewahrt werden. So verbringt Annie Monate wie eine Leibeigene weggesperrt, während Madame M. ihren wachsenden Bauch, geschickt mit Tüchern drapiert, vor der Öffentlichkeit verbirgt. Die psychische Belastung für alle Beteiligten bleibt nicht ohne Folgen.

Camille weiß nicht so recht, was sie von der Geschichte halten soll, die in Fortsetzungen in ihrem Briefkasten landet. Ob das jetzt die neueste Masche junger Autoren ist, um auf sich aufmerksam zu machen? Mehr und mehr beschleicht sie die Angst, sie selbst sei in jene Ereignisse verstrickt. Doch sie hat ja einen Bruder, und das Baby, das Annie damals tatsächlich austrug, wurde an einem anderen Tag geboren und bekam den Namen Louise.

Die Freundschaft zwischen Madame M. und Annie zerbricht nicht nur, sondern verwandelt sich in bedrohliche Rivalität. Verlustängste, Hass, Eifersucht und Misstrauen bestimmen ihre Gefühlswelt, die alsbald völlig aus dem Ruder läuft. Von ihren Emotionen förmlich übermannt, wie fremdgesteuert, greifen die Frauen zu Verrat, Täuschung und hinterhältigen Lügen - Waffen psychischer Manipulation, die den Gegner vernichtet, ohne dass man sich die Hände schmutzig macht.

Auf atemberaubende Weise nimmt die Tragödie immer mehr an Fahrt auf, und der Leser wird wie in einem Thriller mitgerissen. Fassungslos verfolgen wir, wie weit ein Mensch gehen, wie ein Charakter ins Diabolische umstürzen kann - und das im Namen der Liebe.

"Le confident" Hélène Grémillon: 'Le confident' bei Amazon ist ein bis aufs letzte I-Tüpfelchen ausgeklügelter, intelligent aufbereiteter Roman. Er fasziniert durch Per­spek­tiv­wech­sel, überraschende Wendungen und unter­schied­liche Deutungen einzelner Kleinigkeiten, die - unter dem Druck der psychischen Belastung, die jegliche Rationalität ausschaltet - bisweilen geradezu wahnhaft interpretiert werden und heftige Ketten­reak­tionen auslösen.

Dann zweifeln wir Leser; der Boden, auf dem wir sichere Urteile fällen zu können glaubten, schwankt: Wo wir zuvor schon ein vernichtendes Urteil gefällt hatten, können wir auf einmal nicht umhin, Verständnis aufzubringen ... Am Ende tragen alle Schuld; jeder hat den anderen hintergangen, ohne zu ahnen, welch tragische Folgen daraus erwachsen würden. Und die Spur menschlicher Verluste erreicht schließlich auch Camille ...

Claudia Steinitz hat dieses großartige Erstlingswerk ins Deutsche übersetzt.


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