Am Ende bist du still
von Herbert Dutzler
Sabinchen ist ein Wunschkind. Damit es ihr so gut gehen möge wie nur möglich (und damit sie ein Vorzeigekind werde), reißen sich ihre Eltern ein Bein aus. Am Ende bringt Sabine ihre Mama um. Wir können gut nachvollziehen, warum.
Gut gemeint – das Gegenteil von gut
Endlich darf die Rezensentin einmal ohne schlechtes Gewissen verraten, wer der Mörder ist. Ich sag’s Ihnen mit Vergnügen gleich im ersten Absatz: Sabine Meißner hat ihre Mutter umgebracht.
Aber Herbert Dutzlers neuestes Buch ist ja auch kein Whodunit, sondern ein Whydunit. Und hätte Sabine nicht zum Äußersten gegriffen, wäre es immer noch ein starkes Psychogramm, womöglich das repräsentative Porträt von Vertretern eines gesellschaftlichen Phänomens.
Wahrscheinlich seit Beginn der Fortpflanzung möchten Eltern immer nur das Beste für ihren Nachwuchs. Mit dem nackten Überleben war schon viel erreicht. Gesundheit, Nahrung, Kleidung, Arbeit, Bildung, Selbstständigkeit und Freiheit waren spätere Desiderata. Ob ›aus dem Kind etwas wird‹, das konnten die Eltern nicht garantieren, das war Gottes Wille oder ›Schicksal‹.
Vielen heutigen Eltern genügt das nicht. Zu viel steht auf dem Spiel: unzureichende Qualifizierung, Langzeitarbeitslosigkeit, Statusverlust, Absturz aus der Mittelschicht – und für die Eltern das Stigma, nicht genug getan zu haben. Als Ausweg bietet sich genau das Gegenteil dessen an, was in den Sechziger- und Siebzigerjahren propagiert wurde. Damals wollten junge Eltern den Sprösslingen jegliche Autoritäten und Zwänge ersparen, aber maximale Freiheit zur Selbstentfaltung lassen – jetzt wird das Kind kaum gefragt (was weiß es schon von den Anforderungen einer kompliziert gewordenen Welt?), die Eltern entscheiden, was das Beste ist, bieten maximale Unterstützung und sichern durch permanente Kontrolle den Weg zum Erfolg.
So eine Familie, für die das Etikett ›Helikopter-Eltern‹ in Gebrauch ist, stellt Herbert Dutzler vor und spitzt das Dilemma bis zum Äußersten zu. Er erzählt von einer Supermutter, die, um ganz für ihr Töchterchen zu leben, ihren Beruf und sich selbst aufgibt. Sie hat im Roman nicht einmal einen Namen. Wir lesen, wie sie die Tage der Familie reglementiert. Von der Morgentoilette übers gesunde Frühstück, Fahrdienste zu Schule und Nachmittagsaktivitäten mit sorgfältig ausgewählten ›Freundinnen‹ bis zum Gute-Nacht-Kuss lässt Mama das Kind keine Sekunde aus den Augen. Halb amüsiert, halb entsetzt verfolgen wir, wie sie Tag für Tag die Zügel anzieht, bis der rund um die Uhr gegängelten Tochter keine Luft zum Atmen mehr bleibt.
Wie kann sich ein solches Kind ›ent-wickeln‹? Abwechselnd spricht die Tochter als Ich-Erzählerin aus ihrer Kindheit, während uns ihr Erwachsenendasein in der 3. Person erzählt wird. Wir erfahren also aus erster Hand, wie Sabine, ausgestattet mit Markenkleidung, Qualitätslederschuhen aus »nachhaltiger Produktion« und teurem Handy, in der Schule für all das nicht etwa Anerkennung erntet, sondern Mobbing. Dass manche Hausaufgabe von der Mutter erstellt wurde, bleibt der Lehrerin nicht verborgen – auch dieser Schuss geht nach hinten los. Für Sabine wird zwar ein teurer Pool im Garten ausgebuddelt, doch die Einweihungsparty ist kein Spaß – zu restriktiv selektierte Gäste, zu viele Ermahnungen. Zur Firmung soll Sabine mit einem extravaganten Kleid alle anderen ausstechen. Mutter und Tochter ziehen von Boutique zu Boutique. Für die echten Bedürfnisse des Mädchens allerdings hat die Mama keine Antenne: Gedankenlos reißt sie den Vorhang der Umkleide zur Seite und exponiert Sabine unbekleidet der Kundschaft.
In dieser kleinen Episode zeigt sich der Kern des Problems von ›Helikopter-Eltern‹. In ihrer mechanistischen Weltsicht ist kein Platz für Gefühle. In ihrem Leistungsdenken überziehen sie maßlos. Was gut gemeint ist, wird zur Hölle. Fürsorge schlägt um in Verhätscheln, Schutz in Kontrollwahn, Selbstlosigkeit in Selbstsucht, Hilfe in Gängelung und Zurechtweisung, Gefühl in Gedankenlosigkeit.
Wie so oft kommt es wegen der Erziehung zu Konflikten zwischen den Eltern. Sabines Vater ist bewusst, was falsch läuft, und erkennt bei seinem Kind schon früh psychische Auffälligkeiten, doch seine Beobachtungen und Argumente dringen zu seiner dominanten und hochemotionalisierten Ehefrau nicht durch. Leidtragende ist die Tochter, deren psychische Störungen unbeachtet weiter gedeihen.
Fatalerweise investiert die ambitionierte Mutter all ihre Bemühungen in ein eher weniger geeignetes Objekt. Doch in ihrer egozentrischen Verblendung für die Realität erkennt sie nicht, dass Sabine zu den Höchstleistungen, die sie ihr antrainieren möchte, nicht die Voraussetzungen mitbringt. Das Kind ist nicht besonders intelligent, es mangelt ihr an Strebsamkeit, Fleiß, Disziplin, Selbstständigkeit und Einsicht, ihre schulischen Leistungen sind mäßig. In ihrem Charakter – kein Gegenstand des mütterlichen Ehrgeizes – setzen sich unschöne Züge durch: Sabine ist unaufrichtig, hinterhältig, rachsüchtig.
Aber auch die Mutter ist keineswegs so fürsorglich, wie sie sich selbst gern darstellt. Kein Einkauf für Sabine, ohne dass sie auch sich selbst großzügig beschenkt. Abweichende Ansichten kann sie nicht ertragen, weder von der Tochter noch dem Ehemann. Kritik macht sie aggressiv. Sie ist missgünstig, kleinlich, eifersüchtig, mäkelig, kontrollwütig. Bis in kleinste Nuancen arbeitet Herbert Dutzler das Wesen dieser egozentrischen Mutterfigur heraus, so dass wir für die sich wandelnde Haltung der Tochter Verständnis aufbringen. Die Gebrochenheit der Perspektive (als Kind, als Erwachsene) erhöht ihre Glaubwürdigkeit.
Sabines Mutter kann auch ihre erwachsene Tochter nicht freigeben. Sie sieht zwar, dass ihr Konzept nicht die erwarteten Ergebnisse erbracht hat. Mit allerlei krummen Mitteln hat die Tochter sich zur Englischlehrerin qualifiziert, ohne sich in dem Beruf zu Hause zu fühlen. Bei den Eltern lässt sie sich nur zu den unvermeidlichen Familienfesten blicken. Und nicht einmal einen repräsentablen Mann mit Aufstiegsperspektiven hat sie angeln können. Da ist noch viel zu tun für die Mutter. Aber sie hinterfragt nicht etwa ihre Erziehungsmethoden oder sich selbst, sondern setzt einfach fort, was sie mit dem Kind begonnen hatte.
Was die Mutter nicht weiß oder wahrhaben will, ist, in welchem Maß der Hass der Tochter auf sie in all den Jahren gediehen ist. Im vermeintlichen Lämmchen reifen Rachepläne. Mit Sabines leise wachsenden Wünschen, die Mutter möge Unheil treffen, damit sie sie los und endlich frei werde, schleicht sich das kriminelle Element fast unbemerkt ein und blüht im verdorbenen Charakter der jungen Frau auf. Wie sanft verabreichtes Gift breitet sich jetzt Spannung im Gemüt des Lesers aus, Mutter und Tochter erscheinen immer unsympathischer, ihr Konflikt unüberbrückbar, eine gewaltsame Lösung unausweichlich. Sabine wartet auf ihre Chance.
So sehr die Krimi-Handlung (inklusive Überraschungscoup) einleuchtet: Was mich permanent in Atem hielt, war, wie der talentierte österreichische Autor die verquere Mutter-Tochter-Beziehung psychologisch feinfühlig entwickelt. Wie kann sie nur …? Wohin versteigt sie sich denn noch …? Dieser Krimi ist auch eine spannende Realgroteske aus manchem gutbürgerlichen Familienleben.