Rezension zu »Am Ende bist du still« von Herbert Dutzler

Am Ende bist du still

von


Sabinchen ist ein Wunschkind. Damit es ihr so gut gehen möge wie nur möglich (und damit sie ein Vorzeigekind werde), reißen sich ihre Eltern ein Bein aus. Am Ende bringt Sabine ihre Mama um. Wir können gut nachvollziehen, warum.
Kriminalroman · Haymon · · 312 S. · ISBN 9783709934180
Sprache: de · Herkunft: at

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Gut gemeint – das Gegenteil von gut

Rezension vom 20.07.2018 · 6 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Endlich darf die Rezensentin einmal ohne schlechtes Gewissen verraten, wer der Mörder ist. Ich sag’s Ihnen mit Vergnügen gleich im ersten Absatz: Sabine Meißner hat ihre Mutter umgebracht.

Aber Herbert Dutzlers neuestes Buch ist ja auch kein Whodunit, sondern ein Whydunit. Und hätte Sabine nicht zum Äußersten gegriffen, wäre es immer noch ein starkes Psycho­gramm, womöglich das repräsen­tative Porträt von Vertretern eines gesell­schaft­lichen Phäno­mens.

Wahrscheinlich seit Beginn der Fortpflanzung möchten Eltern immer nur das Beste für ihren Nachwuchs. Mit dem nackten Überleben war schon viel erreicht. Gesund­heit, Nah­rung, Kleidung, Arbeit, Bildung, Selbst­ständig­keit und Freiheit waren spätere Deside­rata. Ob ›aus dem Kind etwas wird‹, das konnten die Eltern nicht garan­tieren, das war Gottes Wille oder ›Schicksal‹.

Vielen heutigen Eltern genügt das nicht. Zu viel steht auf dem Spiel: unzu­reichen­de Qualifi­zierung, Langzeit­arbeits­losig­keit, Status­verlust, Absturz aus der Mittel­schicht – und für die Eltern das Stigma, nicht genug getan zu haben. Als Ausweg bietet sich genau das Gegen­teil dessen an, was in den Sech­ziger- und Siebziger­jahren propagiert wurde. Damals wollten junge Eltern den Spröss­lingen jegliche Autori­täten und Zwänge ersparen, aber maximale Freiheit zur Selbst­entfal­tung lassen – jetzt wird das Kind kaum gefragt (was weiß es schon von den Anfor­derun­gen einer kompli­ziert gewor­denen Welt?), die Eltern entscheiden, was das Beste ist, bieten maxi­male Unterstüt­zung und sichern durch perma­nente Kontrolle den Weg zum Erfolg.

So eine Familie, für die das Etikett ›Helikopter-Eltern‹ in Gebrauch ist, stellt Herbert Dutzler vor und spitzt das Dilemma bis zum Äußersten zu. Er erzählt von einer Super­mutter, die, um ganz für ihr Töchter­chen zu leben, ihren Beruf und sich selbst aufgibt. Sie hat im Roman nicht einmal einen Namen. Wir lesen, wie sie die Tage der Familie regle­mentiert. Von der Morgen­toilette übers gesunde Frühstück, Fahr­dienste zu Schule und Nach­mittags­aktivi­täten mit sorg­fältig ausge­wähl­ten ›Freun­dinnen‹ bis zum Gute-Nacht-Kuss lässt Mama das Kind keine Sekunde aus den Augen. Halb amüsiert, halb entsetzt verfolgen wir, wie sie Tag für Tag die Zügel anzieht, bis der rund um die Uhr gegän­gelten Tochter keine Luft zum Atmen mehr bleibt.

Wie kann sich ein solches Kind ›ent-wickeln‹? Abwechselnd spricht die Tochter als Ich-Erzäh­lerin aus ihrer Kindheit, während uns ihr Erwach­senen­dasein in der 3. Person erzählt wird. Wir erfahren also aus erster Hand, wie Sabine, ausge­stattet mit Marken­kleidung, Qualitäts­leder­schuhen aus »nach­haltiger Produk­tion« und teurem Handy, in der Schule für all das nicht etwa Anerken­nung erntet, sondern Mobbing. Dass manche Hausauf­gabe von der Mutter erstellt wurde, bleibt der Lehrerin nicht verborgen – auch dieser Schuss geht nach hinten los. Für Sabine wird zwar ein teurer Pool im Garten aus­gebud­delt, doch die Ein­weihungs­party ist kein Spaß – zu restrik­tiv selek­tierte Gäste, zu viele Ermah­nungen. Zur Firmung soll Sabine mit einem extra­vagan­ten Kleid alle anderen aus­stechen. Mutter und Tochter ziehen von Boutique zu Boutique. Für die echten Bedürf­nisse des Mädchens aller­dings hat die Mama keine Antenne: Gedanken­los reißt sie den Vorhang der Umkleide zur Seite und expo­niert Sabine unbe­klei­det der Kund­schaft.

In dieser kleinen Episode zeigt sich der Kern des Problems von ›Heli­kopter-Eltern‹. In ihrer mecha­nisti­schen Weltsicht ist kein Platz für Gefühle. In ihrem Leistungs­denken über­ziehen sie maßlos. Was gut gemeint ist, wird zur Hölle. Fürsorge schlägt um in Verhät­scheln, Schutz in Kontroll­wahn, Selbst­losig­keit in Selbst­sucht, Hilfe in Gänge­lung und Zurecht­weisung, Gefühl in Gedan­kenlosig­keit.

Wie so oft kommt es wegen der Erziehung zu Konflikten zwischen den Eltern. Sabines Vater ist bewusst, was falsch läuft, und erkennt bei seinem Kind schon früh psychi­sche Auf­fällig­keiten, doch seine Beob­achtun­gen und Argumente dringen zu seiner domi­nanten und hoch­emotiona­lisierten Ehefrau nicht durch. Leid­tragende ist die Tochter, deren psychische Störun­gen unbeach­tet weiter gedeihen.

Fatalerweise investiert die ambitionierte Mutter all ihre Bemühungen in ein eher weniger geeignetes Objekt. Doch in ihrer egozent­rischen Verblendung für die Realität erkennt sie nicht, dass Sabine zu den Höchst­leistun­gen, die sie ihr antrai­nieren möchte, nicht die Voraus­setzun­gen mitbringt. Das Kind ist nicht besonders intelli­gent, es mangelt ihr an Strebsam­keit, Fleiß, Disziplin, Selbst­ständig­keit und Einsicht, ihre schuli­schen Leistun­gen sind mäßig. In ihrem Charakter – kein Gegen­stand des mütterlichen Ehrgeizes – setzen sich unschöne Züge durch: Sabine ist unauf­richtig, hinter­hältig, rach­süchtig.

Aber auch die Mutter ist keineswegs so fürsorg­lich, wie sie sich selbst gern darstellt. Kein Einkauf für Sabine, ohne dass sie auch sich selbst groß­zügig beschenkt. Abwei­chende Ansich­ten kann sie nicht ertragen, weder von der Tochter noch dem Ehe­mann. Kritik macht sie aggressiv. Sie ist miss­günstig, kleinlich, eifer­süchtig, mäkelig, kontroll­wütig. Bis in kleinste Nuancen arbeitet Herbert Dutzler das Wesen dieser egozent­rischen Mutter­figur heraus, so dass wir für die sich wan­delnde Haltung der Tochter Verständnis aufbringen. Die Gebrochen­heit der Perspektive (als Kind, als Erwach­sene) erhöht ihre Glaub­würdig­keit.

Sabines Mutter kann auch ihre erwachsene Tochter nicht freigeben. Sie sieht zwar, dass ihr Konzept nicht die erwar­teten Ergeb­nisse erbracht hat. Mit allerlei krummen Mitteln hat die Tochter sich zur Englisch­lehre­rin quali­fiziert, ohne sich in dem Beruf zu Hause zu fühlen. Bei den Eltern lässt sie sich nur zu den unver­meid­lichen Familien­festen blicken. Und nicht einmal einen repräsen­tablen Mann mit Auf­stiegs­perspek­tiven hat sie angeln können. Da ist noch viel zu tun für die Mutter. Aber sie hinter­fragt nicht etwa ihre Erziehungs­methoden oder sich selbst, sondern setzt einfach fort, was sie mit dem Kind begonnen hatte.

Was die Mutter nicht weiß oder wahrhaben will, ist, in welchem Maß der Hass der Tochter auf sie in all den Jahren gediehen ist. Im vermeint­lichen Lämm­chen reifen Rache­pläne. Mit Sabines leise wachsen­den Wünschen, die Mutter möge Unheil treffen, damit sie sie los und endlich frei werde, schleicht sich das krimi­nelle Element fast unbe­merkt ein und blüht im verdor­benen Charakter der jungen Frau auf. Wie sanft verab­reichtes Gift breitet sich jetzt Span­nung im Gemüt des Lesers aus, Mutter und Tochter erschei­nen immer unsym­pathi­scher, ihr Konflikt unüber­brück­bar, eine gewalt­same Lösung unaus­weich­lich. Sabine wartet auf ihre Chance.

So sehr die Krimi-Handlung (inklusive Überraschungscoup) einleuchtet: Was mich perma­nent in Atem hielt, war, wie der talen­tierte öster­reichi­sche Autor die verquere Mutter-Tochter-Bezie­hung psycho­logisch feinfühlig entwickelt. Wie kann sie nur …? Wohin versteigt sie sich denn noch …? Dieser Krimi ist auch eine spannende Realgro­teske aus manchem gut­bürger­lichen Familien­leben.


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