
Das Buch des Meeres – Tage- und Skizzenbücher großer Seefahrer
von Huw Lewis-Jones
Unzählige Impressionen und Studien, mit Stift und Pinsel festgehalten, monochrom und farbig, neugierig-naiv, wissenschaftlich-akribisch und künstlerisch inspiriert, und alle direkt aus der Wahrnehmung vor Ort entstanden: an Bord von Schiffen auf exotischen Ozeanen
Meere und Menschen
© Library of Congress,
Washington, D. C.;
Rein technisch betrachtet, ist dieses Buch eine Fleißarbeit, die größte Anerkennung verdient. Denn der Herausgeber, Huw Lewis-Jones (Enkel eines Royal-Navy-Commanders), muss unzählige Archive durchforstet und einen gewaltigen digitalen Zettelkasten akribisch verwaltet haben, aus dem er das Material für »The Sea Journal – Seafarers’ Sketchbooks« auswählte. Es umfasst hauptsächlich Handschriftliches und Handgezeichnetes bzw. Handgemaltes, das an Bord der Schiffe unter dem frischen Eindruck des soeben Entdeckten geschaffen wurde. Wenn alles gut ging und die Logbücher nicht etwa mit ihren Schiffen untergingen, wurden die Skizzen später an Land oft mit Hingabe verfeinert und zu wertvollen Produkten ausgearbeitet, zum Beispiel zu höchst geheimen Marinekarten, aufwändig kolorierten Drucken und imposanten Gemälden aus Meisterhand.
© State Library of New
South Wales, Sydney
Das Buch ist mit 304 dicht bedruckten Seiten und fest kartoniertem Umschlag ein Schwergewicht (knapp 1400 Gramm), für das man sich ein gemütliches Plätzchen zum Schmökern suchen wird. Der Akzent liegt dabei auf dem Schauen. 450 farbige Abbildungen zeigen See- und Landkarten, geologische und meteorologische Formationen, Fische und Meeressäuger, Vögel, Getier und Pflanzen aller Art, menschliche Porträts, Physiognomie und Trachten, und natürlich Ansichten von Schiffen aus allen Perspektiven.
© Western Americana Collection,
Beinecke Rare Book and Manuscript
Library, Yale University, New Haven
Viele Seeleute zeichneten aus wissenschaftlichem Ehrgeiz, andere, um Langeweile an Bord zu vertreiben, wieder andere, um nach Schlachten oder Stürmen ihre Nerven zu beruhigen. Nicht zuletzt ließ die künstlerische Betätigung auf ein späteres finanzielles Zubrot an Land hoffen, denn exotische Ansichten und Kuriositäten fanden auf Jahrmärkten, auf Bilderbögen oder in Zeitschriften ein zahlungswilliges Publikum. Motivation und angepeiltes Publikum beeinflussten, welche Gegenstände wie dargestellt wurden, und etwas Flunkern konnte sich lohnen. Am vorherrschendsten scheint jedoch das Bemühen um getreuliche, ja akribische Abbildung, um zu publizieren, wie vielfältig und erstaunlich die Schöpfung ist. Und aus vielen spricht einfach nur die Freude am Verarbeiten des persönlich Erlebten – sie ist es vielleicht, die man beim Betrachten am liebsten verspürt.
© National Library of
Australia, Canberra
Die Werke stammen von 61 Seefahrern (darunter sechs Frauen), die zwischen dem vierzehnten und dem zwanzigsten Jahrhundert die Meere querten. Es sind ganz überwiegend Briten, aber auch andere große maritime Nationen wie Frankreich, die Niederlande, Portugal, Italien, China, Japan und die USA sind repräsentiert. Huw Lewis-Jones stellt sie in alphabetischer (nicht etwa chronologischer) Reihenfolge vor und charakterisiert sie kurz mit ihren besonderen Eigenschaften und Leistungen (Übersetzung: Nina Goldt und Annika Klapper), worauf eine oder mehrere Bildseiten folgen. Die Auswahl befremdet erst einmal: Beispielsweise fehlen die A-Promis Magellan oder James Cook, wohingegen eine ganze Reihe nie gehörter Namen präsentiert sind. Das erklärt sich aber durch die Tatsache, dass hier die Fertiger der Abbildungen gelistet sind und dies keineswegs immer die berühmten Kapitäne oder Expeditionsleiter waren. Zwar gehörte Zeichnen lange Zeit zur Offiziersausbildung, doch oft wurden begabte Mannschaftsmitglieder mit der Aufgabe kompetenter Dokumentation betraut oder extra dafür geschulte Fachleute an Bord genommen.
© Mitchell Library, State Library
of New South Wales, Sydney
Die vielfältigen optischen Eindrücke werden durch sehr persönliche Essays von acht außergewöhnlichen meeresaffinen Zeitgenossen bereichert. Roz Savage etwa durchquerte die Ozeane allein im Ruderboot, der deutsche Polarforscher Arved Fuchs erreichte zu Fuß den Nordpol. Ob auf hoher See oder in Eiswüsten, die Autoren haben ganz ähnlich den Logbuch-Künstlern ihre Eindrücke, Stimmungen, Erfahrungen und Betrachtungen zum Leben unter extremen Umständen ins Tablet getippt.
Man kann nur bewundern, mit welcher Gewissenhaftigkeit die Seeleute in allen Jahrhunderten unter oft schwersten Bedingungen zu Werke gingen. Aus ihren Arbeiten spricht so vieles: Neugier und Respekt, Mut und Können, Offenheit und Toleranz, Engagement und Verständnis, Sinn für Maß und Schönheit. Wer dieses Buch aufschlägt, wird schon selber Begeisterung für die See mitbringen; wer darin eintaucht, wird seiner Liebe für das Meer neue Nahrung geben.