Archipel
von Inger-Maria Mahlke
Hoffnungsvoll beginnt das zwanzigste Jahrhundert für den jungen Julio aus Teneriffa. Aber es bringt dem Land die Franco-Diktatur, Schmerz, Enttäuschungen und Wunden. Vom heutigen Zustand seiner Familie aus erzählt Inger-Maria Mahlke deren Geschichte rückwärts bis zu seinem Aufbruch.
Die Wunden des spanischen Jahrhunderts
Mit einem mitternächtlichen Hoch »Auf die Zukunft!« endet Inger-Maria Mahlkes außergewöhnlicher Roman »Archipel«. Die reiche Oberschicht der Insel Teneriffa begrüßt in der Villa des Tomaten- und Bananenhändlers Theobaldo Moore das neue Jahr 1920 mit einem Feuerwerk über Santa Cruz. Über vierhundert Seiten früher und fast ein Jahrhundert später hat die Handlung im Jahr 2015 ihren Anfang genommen.
Wenn der letzte Satz Sie ein wenig verwirrt haben sollte, so wird das Buch es erst recht tun. Denn sein Konzept ist ungewohnt, seine Erzählweise eigenwillig, sein Stil bisweilen sperrig: Der Leser ist gefordert, gerade am Anfang, wo er sich an die schier endlosen Beschreibungen winziger, vermeintlich nebensächlicher Vorgänge und Gegenstände gewöhnen und aus den wenigen kleinen Ereignissen eine Handlung erschließen muss.
Den Plot verfolgen wir im Rückwärtsgang. Zu Beginn des Romans ist bereits alles, was erzählt werden soll, geschehen und unabänderlich. Unsere Augen und unsere Erwartungen sind gewohnheitsmäßig nach vorne gerichtet, doch die Erzählung saugt uns rückwärts. Wenn wir uns auf einmal gewissermaßen grundlos zu Boden gestürzt finden, können wir die Ursache dafür erst später erfahren. Überdies ist der Plot stark verästelt, was die Orientierung weiter erschwert. Wie Archäologen suchen wir, von der Autorin unmerklich geleitet, in den vielen kleinen Episoden und Perspektiven nach Spuren für den Weg zu den Ursprüngen. Erst am Ende des Buches ergibt sich aus unendlich vielen Puzzlesteinchen ein Gesamtbild.
Die einzige Figur, die uns in diesem komplexen Werk von der Gegenwart bis in die weit zurück liegenden Anfänge begleitet, ist Julio Baute. Geboren 1919 als Sohn eines Apothekers, darf er als Angehöriger der Mittelschicht auf eine gute Zukunft hoffen. Doch der aufstrebende Faschismus und die Jahrzehnte überdauernde Diktatur des Generals Francisco Franco bestimmen auch sein Leben und sorgen für Verluste und bleibende Narben, wie in der gesamten spanischen Gesellschaft und auch der des abgelegenen Archipels.
Nach seiner Rückkehr aus Bürgerkrieg (in dem er seinen sechs Jahre älteren Bruder Jorge verlor) und Gefangenschaft 1944 gründet Julio eine Familie. 1964 wird die Tochter Ana geboren. Sie heiratet Felipe, den letzten Abkömmling des tinerfenischen Adelsgeschlechts der Bernadotte. Ihre Tochter Rosa wird 1994 geboren. Weitere wichtige Charaktere stammen aus den Generationen von armen Hausdienern, Angestellten, Taglöhnern, wohlhabenden Geschäftsleuten, Militärs, Intellektuellen und Akademikern, die bei und mit den Bernadottes zu tun haben. So können wir uns an Hand dreier repräsentativer und miteinander verbundener Familien – Bernadotte, Baute, Marrero – ein Bild zusammensetzen, wie die spanische Politik verschiedene Schichten der Inselgesellschaft in ihren sozialen Bedingungen und politischen Einstellungen zwischen Sozialismus und Falangismus beeinflusst hat.
Das Endergebnis der Entwicklung in unserer Gegenwart weist dunkle Farben auf und ist ein Scherbenhaufen. Julios Tochter Ana ist zwar zur Staatssekretärin aufgestiegen und betreut den Bereich Tourismus auf Teneriffa, doch sieht sie sich skandalösen Korruptionsvorwürfen ausgesetzt. Ihr Mann Felipe, ohnehin bereits frustrierter Geschichtsprofessor und »der letzte Konquistador« in einer Dynastie, deren Männer auch noch unter dem Generalissimo Franco führende Militärposten innehatten, verliert gegen eine junge Konkurrentin ein Projekt, mit dem er die Verbrechen seiner Familie unter der Diktatur aufklären wollte. Die gemeinsame Tochter Rosa hat ihr Studium (»was mit Kunst«) drangegeben und hofft nun auf Erleuchtung beim Großvater Julio, welcher seinerseits seit Jahren in einem Altenheim eine Bleibe und eine sinn- und verantwortungsvolle Beschäftigung als Portier gefunden hat.
Was veranlasst eine deutsche Schriftstellerin, eine spanische Geschichte zu erzählen, noch dazu eine problematische, wo doch die Spanier selber ihre faschistisch-diktatorische Vergangenheit kaum aufgearbeitet haben? Noch vier Jahrzehnte nach deren Ende findet man im ganzen Land Verehrer, unveränderte Denkmäler und Huldigungen des Caudillo, aber auch offen gebliebene Wunden und Erinnerungen an erlittene Schmerzen. Inger-Maria Mahlke ist auf Teneriffa aufgewachsen und hat das eigenartige Weiterleben der unheilvollen Epoche nach ihrem Erlöschen selbst erfahren, und es war ihr ein Anliegen, spürbar zu gestalten, wie es sich in das Wesen von Menschen aller Schichten eingegraben hat, wie unausgesprochenes Leid, erduldetes Unrecht, vereitelte Lebensentwürfe und verdrängte Taten viele Familien belasten. Die Autorin tut das nicht plakativ, sondern durch die Betrachtung der kleinen, unauffälligen, fast verborgenen Details des Alltags dieser Menschen.
Obwohl der Roman im Grunde ein historisch-politisches Anliegen verfolgt, hält er sich bei diesen Themen dezent zurück, lässt jedenfalls keinerlei Bewertung durchscheinen. Die Erzählung fokussiert sich auf das persönliche Empfinden der Charaktere, das Zeitgefühl, die alltäglichen Lebensabläufe der Inselbewohner. Der Faschismus, die Besuche Francos auf der Insel, die Kriege und Militärputsche, eine Grube in den Cañadas (»die waren vom Februar 37, alle mit Kopfschuss«): kaum näher erläutertes Randgeschehen.
Mahlkes Sprache ist klar, aber der Duktus nicht leicht eingängig. Nicht enden wollende Wiederholungen und Aufzählungen, ausbleibende Erklärungen und Orientierung gebende Wertungen, inhaltliche Lücken, zunächst rätselhafte Andeutungen und Bilder (»verdammter Rucksack unter ihrer Brust«, »die Katze ist weg«), dazu die Abwesenheit äußerer Handlung über Seiten hin und natürlich das reverse Strukturprinzip von Folgen zu Ursachen machen den Text zu einer Abfolge scheinbar zufälliger Momentaufnahmen. Der Leser wird nicht bedient, sondern zum Do-it-yourself aufgefordert. Gewiss nicht zuletzt für diese literarische Innovation wurde »Archipel« mit dem Deutschen Buchpreis 2018 ausgezeichnet.
Ein wenig Hilfestellung gibt uns die Autorin, indem sie jedes Kapitel und Unterkapitel mit einer Jahreszahl versieht und dem Roman ein knappes Verzeichnis seiner Hauptfiguren mit Geburtsjahr und Verwandtschaftsverhältnissen voranstellt. Diese Stammbäume arbeitet sie dann gewissermaßen in umgedrehter Richtung ab.
Wirklich gefallen hat mir »Archipel« erst in der Nachbereitung. Wer rasche Unterhaltung sucht, wird enttäuscht sein. Wer sich auf die Herausforderung einlässt, Konzentration aufbringt und gelegentlich ein wenig hin und her blättert, wird mit einer besonderen Art des Lesevergnügens belohnt. Die Lektüre ist ja durchaus anschaulich (etwa die Beschreibungen der kargen vulkanischen Landschaft, ihrer Flora und Fauna), teils amüsant (etwa Julios Abenteuer am Portal des Altenheims), teils bewegend (etwa die Käfige mit bunten Kanarienvögeln zur Unterhaltung der Demenzkranken). Und alles ist gleich bedeutsam: wie einer einen Becher Joghurt verzehrt, wie sich das Plastik einer quadratischen Kunststofftasche aus den Achtzigerjahren ablöst, wie Tochter Francisca eingekleidet wird, um dem Caudillo einen Blumenstrauß zu überreichen, wie Schuhe drücken, wie man Batterien für das Radio sucht. Was wird daraus werden – oder chronologisch korrekter: Was war damit früher einmal geschehen?