Rezension zu »Knapp am Herz vorbei« von J.R. Moehringer

Knapp am Herz vorbei

von


Belletristik · Fischer · · Gebunden · 444 S. · ISBN 9783100496034
Sprache: de · Herkunft: us

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Bankräuber mit Herz und Verstand

Rezension vom 01.06.2013 · 8 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Ein »Volksheld, weil er mit den Banken auf Kriegsfuß stand«, und »der lite­ra­risch­ste Kriminelle der ame­rikanischen Geschichte« – so ordnet der Autor seinen Protagonisten Willie Sutton ein; schon seine Groß­eltern hatten voller Bewunderung von ihm erzählt. Der SPIEGEL widmete ihm schon 1952 eine Story (»Der Mörder ohne Gesicht«, 26.3.1952) und Wikipedia (engl.) im Februar 2004 einen eigenen Artikel. Dazu hat der Mann gleich zwei Autobiografien verfasst (die einander allerdings erheblich widersprechen).

Ein festes Gerüst, so scheint es, um daraus einen packenden Roman zu gestalten. Dieser Aufgabe hat sich Pulitzer-Preisträger J.R. Moehringer gestellt, vielen Lesern weltweit durch seinen autobiografischen Roman »Tender Bar« (2000) bekannt, und jetzt liegt »Sutton« J.R. Moehringer: »Sutton« bei Amazon in der deutschen Übersetzung von Brigitte Jakobeit vor.

In »Knapp am Herz vorbei« nähern wir uns diesem Willie Sutton in zwei parallel verlaufenden Handlungs­strängen, die alternierend fortgeführt werden. Im einen lesen wir seine verschlungene, packende Ge­schichte, im anderen fahren wir quasi als vierte Person mit im Straßenkreuzer eines roadmovies.

Kurz vor Weihnachten 1969 wird Willie Sutton unerwartet von Gouverneur Nelson Rockefeller begnadigt. Da ist Sutton 68 Jahre alt und hat mehr als sein halbes Leben in Haftanstalten verbracht. 1926 wurde er erstmals zu vier Jahren in Sing-Sing verurteilt; zuletzt hatte er im härtesten Strafvollzug eingesessen, im Hochsicherheitsgefängnis Attica Correctional Facility im Bundesstaat New York (Dort starben 1971 bei einem Gefängnisaufstand 43 Menschen.). Seine Entlassung ist eine Sensation für die Amerikaner. Presse­vertreter gieren auf ihn, wollen ein Exklusivinterview herausschlagen und die Fotos des Jahres schießen.

Suttons Anwältin Katherine arrangiert denn auch mit einer Zeitung, dass Sutton mit einem Privatflugzeug nach Manhattan geflogen wird, um ein Wochenende mit einem Reporter zu verbringen. Er kann sein Glück kaum fassen – frei zu sein, zum ersten Mal seit siebzehn Jahren in die klare Winternacht zu schauen, dabei »den Mond … von Angesicht zu Angesicht« betrachten zu können. Zwar mag er keine Reporter, doch er weiß, »jetzt ist nicht die Zeit, um Ärger zu machen«. Statt eines steifen Interviews im Hotelzimmer unter­nehmen die beiden Männer eine Tour im 68er Dodge Polara mit »Schreiber« (Reporter) und »Knipser« (Fotograf). Sie besuchen die maßgeblichen Stätten von Suttons Lebenslauf und seiner verbrecherischen Karriere, die wie Stecknadelköpfe auf der Karte von New York eingepiekst sind. Obwohl es dabei wieder­holt kreuz und quer durch die Stadt geht, insistiert Sutton, sie müssten seine »Reihenfolge einhalten. Sonst ergibt die Geschichte keinen Sinn«. Die Romanstruktur gehorcht ebenfalls.

Während dieser Zeitreise sitzen wir gewissermaßen als Zuhörer und Betrachter auf der Rückbank des Po­lara, so direkt ist der Erzählstil, der nahezu vollständig aus ungeschönter wörtlicher Rede der drei Mitfah­rer besteht. Sutton lässt seine Erinnerungen aufleben, erzählt die Ereignisse der Vergangenheit aus seiner Rückschau, taucht dabei in seine eigene Gefühlswelt ab. Er spricht mit sich selber, und wir hören einem sensiblen, zart besaiteten, grauhaarigen Mann zu, dessen persönliche Worte zu Herzen gehen. Manchmal stehen ihm Tränen in den Augen.

Sutton ist gesundheitlich angegriffen. Er glaubt, ein Emphysem im Bein werde ihn bald umbringen. Des­halb strebt er am Ende der Fahrt zu einer Adresse, die ihm wichtig ist.

Ein ganz anderes Bild liefert die Erzählung des parallel verlaufenden zweiten Handlungsstrangs. Hier er­kennen wir Sutton als perfekt analysierenden und eiskalt agierenden Verbrecher. Er verdiente sich den Beinamen Willie the actor, weil er gern und gekonnt in die Rollen von Postboten oder Polizisten schlüpfte. So täuschte er nicht nur Wachleute und Banker, sondern floh auch auf spektakuläre Weise aus etlichen Hochsicherheitsgefängnissen. Sein zweiter Beiname – Slick Willie – illustriert, dass er für diese Wege in die Freiheit auch vor Abwasserrohren nicht zurückschreckte.

Zwischen 1920 und 1952 raubte Sutton mehr als einhundert Banken aus und erbeutete dabei mehr als 2 Millionen Dollar. Davon finanzierte er sich allerdings kein Leben auf großem Fuße, sondern steckte einen großen Teil Bedürftigen zu, und hierauf stützt sich sein nachhaltiges Ansehen als eine Art Robin Hood in weiten Teilen der Bevölkerung. Als er zum Beispiel 1948 auf Staten Island in einem Krankenhaus als Pfört­ner und Hausmeister arbeitete, konnte er nicht mit ansehen, wie erbärmlich die verstorbenen Frauen in namenlosen Armengräbern entsorgt wurden. Er grub also einen Teil seiner Beute aus und legte anonym Umschläge mit Geld auf die Toten im Leichenschauhaus.

Sutton war natürlich ein Kind seiner Zeit. Die Eltern und Großvater Daddo kamen schon lange vor seiner Geburt aus Irland ins verheißungsvolle New York, ließen sich im armen Irish Town nieder und erwarben dort solides Ansehen, denn Vater Sutton war Hufschmied. Den kleinen Willie beeindruckt es, wie der Papa mit vollem Körpereinsatz die glühenden Eisenstücke auf dem Amboss formt. Doch der harte Arbeitsplatz kann die Familie mit drei Jungen nur gerade so über Wasser halten, und je mehr Automobile über die Stra­ßen New Yorks rollen, desto weniger wird er überhaupt gebraucht.

Obwohl der junge Willie ein guter Schüler ist und einen respektablen Schulabschluss schafft, kann er nicht auf die Highschool weitergehen, denn man erwartet von ihm, dass er zum Lebensunterhalt der Familie bei­trägt. Allerdings suchen im Jahr 1914 viele Menschen wie er nach Arbeit. Noch ohne Ausbildung und ohne Berufserfahrung hat er bei der großen Konkurrenz keine Chance. Was ihm bleibt, ist, mit seinen Freunden Eddie und Happy auf den Straßen herumzuhängen. Die drei sind gefrustet und sauer auf Gott und die Welt, das System, das Land, die Reichen: »Die verarschen uns doch alle.«

Gelegentlich ergattern sie Aushilfsjobs. Willie fühlt sich schon als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft auf der ersten Sprosse der Karriereleiter, als er Laufbursche beim Bankhaus »Title Guaranty« wird. Doch wenige Monate später wird er entlassen, und alle Illusionen sind dahin: »Es gibt einen amerikanischen Traum. Man darf bloß nicht daraus aufwachen …«

Sich wie seine Brüder freiwillig zum Kriegsdienst zu melden, nachdem die USA 1917 offiziell in den 1. Welt­krieg eintraten, kommt für Willie nicht in Frage – denn er ist verliebt in Bess Endner, die Tochter eines reichen Schiffswerftbesitzers mit besten Kontakten zu Politik und upper class. Wie wohl zu erwarten war, verfügt Mr Endner per Gerichtsurteil, dass Willie sich seiner Bess nicht mehr nähern darf …

Aus all diesen Umständen kann man Erklärungen abzuleiten versuchen, was Sutton in die Kriminalität schliddern ließ: War es die große Liebe mit dem Ziel, Reichtum anzuhäufen, um eines Tages für die Frau aus einer anderen gesellschaftlichen Welt sorgen zu können? Oder waren es die bitteren Zeitläufte der Wirtschaftskrisen, die Amerika erschütterten und den Menschen alle Hoffnungen auf ein geordnetes Leben raubten?

Als Willie mit seinen Kumpeln Juweliergeschäfte ausraubt und erstmals verhaftet wird, verstoßen ihn seine Angehörigen. Eddie, Happy und Konsorten werden nun zu einer Familie, in deren Gemeinschaft ein stren­ger Ehrenkodex gilt. Eher lässt man sich bei Polizeiverhören zu Tode foltern, als dass man zum Verräter wird. Ein Judas ist verachtenswerter als ein Mörder und wird seines Lebens nicht mehr froh werden.

Im Kern ist Sutton ein sympathischer, friedfertiger und intelligenter Mensch. Zwar würde er keine Bank ohne Waffe betreten, doch dient sie nur dem Drohen – ziehen und benutzen würde er sie nie (was die Be­drohten freilich nicht wissen können …). Es kursierten gar Episoden, dass Sutton seine Banküberfälle ab­gebrochen habe, sobald ältere Menschen oder Schwangere im Schalterraum in Ohnmacht fielen oder Kleinkinder verängstigt schrieen.

Zum Image des netten, umgänglichen Kerls trägt auch bei, was über seine Führung in den Haftanstalten verbreitet wurde. Da durchleidet er schlimmste Behandlungen wie monatelange Einzelhaft, teils verdun­kelt, teils unbekleidet, und buddelt sich doch immer wieder aus dem depressiven Loch heraus, schöpft neuen Lebensmut, lässt sich motivieren. Eine wichtige Rolle spielt der illustre Mitgefangene Charles Chapin, bis 1918 umstrittener Herausgeber des Sensationsblattes New York Evening World, dann bankrott und zum Selbstmord getrieben, wobei er jedoch einen Rückzieher macht, nachdem er seine Frau erschos­sen hatte. Für letztere Tat in Sing Sing einsitzend, darf er da einen Rosengarten anlegen und kann Sutton zur Mit­arbeit bewegen. Chapin begeistert ihn auch für Literatur; bald füllen Werke von Sokrates, Platon, Dante, Shake­speare, Sigmund Freud und Bert Brecht sowie die Bibel seine kargen Zellenwände.

Und doch ist die Sehnsucht nach Freiheit größer als alle Privilegien eines Gefängnisses. Sobald sich eine Gelegenheit abzuhauen bietet, greift Sutton zu, wiewohl ihn doch alle Erfahrung lehren muss, dass er, wenn nicht schon der Versuch scheitert, nach kürzester Zeit in Freiheit wieder gefasst sein wird. Drei Mal riskiert Sutton alles, unterzieht sich sogar plastischer Chirurgie – und doch vergebens.

Sein spektakulärster Ausbruch ist sicher der Tunnelbau im Eastern State Penitentiary im Jahr 1945. Mit Sutton graben elf Sträflinge mit bloßen Händen und einfachsten Hilfsmitteln einen 30 m langen Tunnel. Nur wenige Minuten atmet Sutton die Luft der Freiheit, dann wird er in Handschellen abgeführt …

»Knapp am Herz vorbei« ist die berührende Geschichte einer typisch amerikanischen Legende, eines ge­brochenen Gesetzesbrechers, den man mit einem Mythos umgeben hat. Einerseits einer der Ten Most Wanted Fugitives des FBI, andererseits bewundernswert entschlossener self-made man; einerseits dreister Krimineller, andererseits good guy mit sozialer Verantwortung. Sehr früh sind dem gut erzogenen Jungen alle Ideale abhanden gekommen, und sich auf den Straßen durchschlagend lernt er, »dass es im Leben nur um Geld geht. Und um die Liebe. Und um den Mangel daran«.


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