Eispickel im Gehirn
»Second Chance« – das ist die Kult-Nachtshow auf Kanal Sieben, angesagt und heißgeliebt bei ihren Zuschauern. Im Mittelpunkt steht Moderator Marius, etwas selbstherrlich und kategorisch in seinen Urteilen, aber es ist gerade die klare Kante, die seine Fans schätzen und herbeiwünschen, wenn es um die Lösung komplizierter Probleme geht. Es sind ihre eigenen.
Wer seine Schwierigkeiten öffentlich ausbreiten möchte, ruft im Studio an, nachdem Marius mit seiner warmherzig-bedeutungsvollen Baritonstimme die immer gleiche Begrüßungsformel intoniert hat: »Ich begrüße euch, meine Freunde.« Man braucht seinen Namen nicht zu nennen, nur zu formulieren, was einen bedrückt. Dann leistet der Starmoderator, der auch selbst keines Nachnamens bedarf, Erste Hilfe in allen Lebensfragen, diagnostiziert, findet eine Therapie und leitet an, was zu tun ist. Manche »Freunde« melden sich immer wieder. Die Show hat Suchtcharakter.
Neben seinem scharfen Verstand, der dezidierten Urteilskraft und der wohltuenden Stimme gehören Einfühlsamkeit und Seriosität zu Marius’ veröffentlichten Qualitätsmerkmalen. Uns Lesern werden allerdings Blicke hinter die Fassade vergönnt, und dort sehen wir den Mann als kühlen Macher. Kaum hat sich einer seiner »Freunde« am Telefon gemeldet, schanzt er ihm als erstes einen nickname zu, wobei gern »ein wohldosierter Hauch von Belustigung« einfließt, denn die erwartet der Zuschauer solch einer Unterhaltungssendung ja ebenfalls. Zum Ritual gehört auch der dezente Hinweis, dass noch andere »Freunde« in der Leitung hängen, um sich mitzuteilen – eine sanfte Ermahnung, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Soeben hat es der Erste geschafft, am Telefon in die Sendung durchzudringen; Marius nennt ihn deshalb fortan »der Glückliche – Felix«. Leider erweist sich diese Namensgebung als zynisch, denn der Anrufer ist am Ende, weiß nicht mehr weiter, nicht einmal seine Familie kann ihm mehr Halt bieten: »Ich bin kurz davor, mir einen Strick zu nehmen.«
Kriminalkommissar Jörg Albrecht sieht die Szene als YouTube-Video, nachdem man im Hamburger Volkspark eine Leiche gefunden hatte. Der Tote war schnell identifiziert: Falk Sieverstedt, 23, ein Spross des Hamburger Großbürgertums. Sein Vater ist Schiffseigner und Konsul, die Familie repräsentiert in ihrer Villa in Blankenese heile Welt in gediegenem Wohlstand. Doch hinter den Kulissen brodelt es gewaltig. Die Ehe der Eltern ist mehr als brüchig, und Falk will nicht so, wie Vater möchte. Der wirft seinem einzigen Sohn vor, er sei nur ein Schmarotzer und lebe auf Kosten der Familie, ohne je etwas zurückzugeben.
Und nun sieht es so aus, als habe Falk das Handtuch geworfen und sich umgebracht, zuvor aber noch seinen Hilferuf bei Marius vorgetragen und dort den Beinamen Felix, der Glückliche, verpasst bekommen.
Albrecht und seine Kollegin Hannah Friedrichs beschäftigen sich denn auch mit der TV-Show, weiteren leidenden und verstorbenen Anrufern sowie dem Pseudo-Lebensberater. Marius residiert auf einem weit abgelegenen Anwesen, abgeschirmt durch Wachleute und Elektrozaun. Es stellt sich heraus, dass er keine Skrupel hat, gegebenenfalls nachzuhelfen, wenn eine Seele sich nicht so recht öffnen will, wie es der Sendung gut täte …
Am Rande bemerkt: Damit ist der Arme natürlich hoffnungslos vorsintflutlich. Um die letzten lästigen menschlichen Hemmungen (Scham, Anstand, Respekt, Würde usw.) auszuhebeln, haben die Macher der TV-Realität schon vor Jahren einen viel eleganteren und zuverlässigeren Weg beschritten und das Format der Scripted Reality erfunden: sieht aus, als würden sich da echte Menschen blamieren, ist aber alles vom Drehbuchautor ausgedacht und vorgeschrieben ...
Stephan M. Rothers Thriller erzählt von einer Reihe perfider Verbrechen. Sein Titel »Öffne deine Seele« bekommt im weiteren Handlungsverlauf eine sarkastische Doppelbedeutung, wenn die Lobotomie ins Spiel kommt. Das ist ein bis in die Sechziger Jahre durchaus anerkanntes operatives Verfahren, um psychisch Kranken Heilung zu verschaffen: Der Chirurg zerstört dabei bestimmte Partien von Hirngewebe oberhalb der Augenhöhle. Durch diesen Eingriff mit einem spitzen Werkzeug, der nur durch eine winzige Öffnung im Schädel erfolgt, nimmt man dem Patienten zwar seine quälenden Gefühle, doch wird er in der Folge zu einem roboterhaften Wesen.
Dieser Schmöker von über 500 Seiten eignet sich gut fürs Urlaubsgepäck. Er bietet einen ungewöhnlichen, wenn auch nicht gerade realistischen Plot und eine abwechslungsreiche Handlungsgestaltung durch wechselnde Perspektiven, Gesprächsprotokolle der Realityshow u.ä., und dies alles in angemessener Sprachgestaltung.