Jenseits der Komfortzone
Eigentlich ist sie mit sich und der Welt zufrieden und hat auch allen Grund dazu. Sie ist 43 Jahre alt, mit Markus, ihrem »Teilzeithippie«, verheiratet und hat drei schulpflichtige Kinder. Beide Elternteile erledigen einen Großteil ihrer Berufstätigkeit im home office, also am Computer zu Hause im Eigenheim. Krankheiten, finanzielle Engpässe, schulische Querelen und ähnliche verbreitete Sorgen belasten sie nicht. Den ganz normalen Alltagswahnsinn schaukelt die Frau ziemlich perfekt nach klassischem Rollenverständnis, so wie Generationen sie geprägt haben – Kinder, Küche, Karriere, und an die Stelle der Kirche sind heutzutage Klamotten getreten.
Und dennoch ist sie ein wenig ins Trudeln geraten. Schuld ist der Dauerbeschuss mit Denkanstößen, dem sie sich ausgesetzt sieht – von Freundinnen, den Medien, der Werbung, der Entwicklung der modernen Gesellschaft. Sie kann das alles nicht einfach ignorieren; will sie am Ende ihr ausgeglichenes Lot wiederfinden, muss sie sich damit auseinandersetzen.
So bilanziert die Ich-Erzählerin in Vera Anders’ amüsant-nachdenklichem Debütroman »Dancing Queen a.D.« ihre derzeitige Lage und sinniert auf vielfältige Weise über das Leben an sich, das weibliche in der Lebensmitte und ihr eigenes im Speziellen. Namenlos im Roman, schon mal charmant als »Bella« angesprochen, bezeichnet sie sich selbst nur als die »Lebensmittefrau«.
Soeben hat sie mit ihren Freundinnen ein Frauenwochenende im Westerwald verbracht. Sich wohlzufühlen ist dort, bei gewinnmaximiert angebotenem Wellness und Spa, ein impliziter Befehl. Auf den Massagebänken leiden die gleichaltrigen Damen im Zweierpack, entdecken eine Bindegewebsschwäche hier, ein Besenreiserchen da … »Man ist so alt, wie man sich (an)fühlt«, könnte man ihnen zuraunen, wohl wissend, dass diese kleine Stichelei niemandem hilft. Denn die Damen machen sich ernsthaft Gedanken um ihre Figur und ihre Vitalität; deretwegen ist ihr Ego angeknackst. Trotz Lebens mit Kalorientabellen und Ratgebern: »von nun an ging’s bergab«, und »nichts funktioniert langfristig« – am Ende ist man »genauso dick oder dünn« wie die Frauen, »die sich einen Teufel um Fettwerte scheren, die BMI für eine Tochtergesellschaft von BMW halten.«
Auch das soziale Leben verändert sich. Liefen einst kurz vor Mitternacht die Duschen heiß, damit sich die Jugend fürs Sträßchen präparierte, um erst am Morgen ins Bett zu kriechen, wenn die Alten mit zerknittertem Gesicht und verklebten Augen den wiedererwachenden Anforderungen des Lebens entgegentraten, so stellt die einstige Dancing Queen jetzt (mit Bedauern?) fest, dass geladene Gäste – immer in überschaubarer Zahl – nach edler Menüfolge und steifen Konventionen bei Tisch gern um Mitternacht nach Hause aufbrechen; alles andere wäre eine Zumutung für die Gastgeberin (also gelegentlich auch die Erzählerin …).
Immer wieder sieht sich unsere »Lebensmittefrau« der Rollen-Frage konfrontiert: Hausfrau? Mutter? Berufstätige (Teil-, Vollzeit)? DINK (double income, no kids)? oder Single, ganz ohne alles? Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Beste im ganzen Land? Der Fragestellerin springt – je nach angesprochener Person – deren dedizierte Meinung schon in Tonfall, Mimik oder Formulierungen entgegen, und sie kommt zu dem resignierenden Fazit: egal, wie man’s macht, man macht’s keinem recht; »diese Everyone’s-Darling-Nummer funktioniert nie«.
Erstaunlich, wie unkompliziert und völlig stressfrei das Spiel mit umgekehrten Vorzeichen klappt: der Mann als Hausfrau. »Übersichtliches Koch-Repertoire … gewaschene und getrocknete Wäsche kippt er … aufs Bett, so dass sich alle Familienmitglieder ihre Sachen heraussuchen können. Bügeln soll, wer Lust dazu hat. Er hat keine.«
Mit jugendlichem Pep (geht doch noch!), stets einem Zwinkern im Auge und auf bodenständigem Wertefundament ruhend (manche würden es vielleicht »konservativ« nennen), parliert und philosophiert »Bella« über nahezu alle Problemzonen des Lebens (z.B. Treue und Sex) und stellt sich Fragen wie die, ob es noch »Premieren in der Lebensmitte« gebe, ob es nicht völlig ausreichte, »wenn der Mensch nur einmal pro Woche essen müsste«, oder auch die Sinnfrage schlechthin: »Was macht mich glücklich?«
Gewürzt ist das Ganze mit einer Fülle witziger oder auch nachdenklich stimmender Beobachtungen. Zum T-Shirt mit dem Aufdruck »Mutter von Marvin«, getragen am Spielfeldrand eines Fußballturniers der Kinder, gesellt sich ein Gedicht von Eugen Roth: »Unterschied« vergleicht das Kind im Weib mit dem im Mann …
Am Ende fasst die »Lebensmittefrau« viele gute Vorsätze: »mich nicht mehr mit den falschen Leuten vergleichen«, »auf langweilige Konventionen pfeifen«, »für die innere Ordnung die äußere halten« und »immer hübsch auf den Weg achten«.
Ob es der Erzählerin gelingt, diesen Empfehlungen zu folgen und einen Weg zu gehen, der ihr Zufriedenheit, womöglich gar Glück bringt, werden wir vielleicht in einem Folgeband in zehn Jahren lesen. Einen Titelvorschlag hätte ich schon: »Wechseljahre hurra!« …