Fünf Winter
von James Kestrel
Auf Hawaii metzelt ein Unbekannter seine Opfer mit einem Messer aus dem 1. Weltkrieg grausam dahin. Detective Joe McGrady folgt seiner Spur um die halbe Welt, doch die Entwicklungen nach dem japanischen Überraschungsangriff auf Pearl Harbor kommen ihm in die Quere.
Mörder und Kriegsfeind
Niemand kann ahnen, dass wenige Tage später etwas Weltbewegendes geschehen wird. Das aber ist der Clou, der den Plot dieses Thrillers zündet und vorantreibt. Seine Handlung beginnt Ende November 1941, als Detective Joe McGrady zu einer Farm auf dem jenseitigen Teil der hawaiianischen Hauptinsel O’ahu beordert wird. Eine neue Mordermittlung passt ihm grade gar nicht in den Kram, denn den nächsten Tag – Thanksgiving – will er mit seiner Freundin Molly verbringen.
Das kann er wohl vergessen. Im Geräteschuppen von Reginald Faithful bietet sich ihm das grausige Bild einer irrsinnigen Metzelei. Ein Toter »hing kopfüber von den Dachbalken herab … er war mehr oder weniger in zwei Teile aufgerissen, der größte Teil seiner Innereien hing auf den Lehmboden herab … von seinem Gesicht ist nicht viel übrig«. Ehe die erste Inaugenscheinnahme abgeschlossen ist, kommt ein Packard-Zweisitzer vorgefahren, am Steuer ein Mann von dunkler Gesichtsfarbe, der offensichtlich mit Hilfe eines Zwanzig-Liter-Benzinkanisters die Hütte abfackeln will und jetzt erst einmal mit seinem schweren Revolver McGrady aufs Korn nimmt. Aber am Ende eines heftigen Schusswechsels ist nicht der Polizist, sondern der Unbekannte ins Jenseits befördert.
Jetzt scheint der Fall erledigt, doch den Detective treibt sein Bauchgefühl um, dass es hier mehr als einen Täter geben könnte. Jetzt erst fällt ihm eine Blutlache auf. Sie stammt von einer hübschen, etwa zwanzig Jahre alten Orientalin (»Japse«), die auf einem Feldbett unter einer blutgetränkten Bettdecke klebt. Die Handgelenke der Nackten sind hinter ihren gebeugten Knien gefesselt. Ihr Gesicht wurde mit einem Messer malträtiert – wie das des männlichen Toten. Im Kofferraum des Packard finden sich Spuren beider Opfer, so dass man mutmaßt, sie seien gemeinsam zu dem Geräteschuppen gebracht worden, um sie dort umzubringen.
Schnell kann man die mittlerweile drei Toten identifizieren. Admiral Kimmel, Oberbefehlshaber der auf Hawaii stationierten US-Pazifikflotte, erkennt in dem jüngeren Toten seinen einundzwanzig Jahre alten Neffen Henry K. Willard wieder, der seit drei Tagen vermisst wird. Ob er in irgendeiner Beziehung zu der ermordeten Japanerin stand, ist dem Admiral nicht bekannt. Der Packard-Fahrer, zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt, könnte ein Deutscher gewesen sein, der die vermutete, recht spezielle Tatwaffe – ein »Grabendolch« – aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs mitgebracht haben kann und damals durch amerikanische Munition verwundet worden war.
Ganz neue Dimensionen nimmt der Fall an, als ein Soldat der US-Marine ebenfalls mit einem Grabendolch brutal getötet wird – dreitausendsiebenhundert Kilometer westlich von O’ahu, wo die Navy seit Jahresbeginn auf dem winzigen Wake-Atoll eine Militärbasis aufbaut. Jetzt muss man damit rechnen, dass ein Serienmörder sein Unwesen treibt. (Tatsächlich ist das nicht das letzte Messer-Massaker.) Angesichts der sich komplizierenden Ermittlungen stellt McGradys Vorgesetzter beim Honolulu Police Department, J.H. Beamer, ihm einen Co-Ermittler zur Seite, den Detective Fred Ball. Erfreut ist McGrady keineswegs über die Beiordnung. Sie hat wohl eher mit dem etwas angespannten Verhältnis zwischen ihm und seinem Chef zu tun. Beide haben in der Army gedient, beide sind als Captain ausgeschieden, aber bei der Polizei wurde Beamer höher eingestuft.
Bald hat man den Verdacht, dass der Dolch-Mörder auf dem Weg nach Asien sein könnte, und McGrady soll ihm in geheimer Mission als Zivilist folgen. Nach einem letzten Besuch bei Molly nimmt für McGrady eine fernöstliche Odyssee ihren Lauf – während niemand weiß, dass die japanische Flotte klammheimlich in der Gegenrichtung unterwegs ist, um den Navy-Stützpunkt Pearl Harbor zu vernichten.
Damit vermischen sich die Mordermittlungen mit den im Dezember 1941 rasant fortschreitenden militärischen und politischen Ereignissen, die den Krieg buchstäblich um die Welt tragen. Als McGrady in Hongkong landet, haben die Japaner die vormals britische Kronkolonie soeben erobert, er wird inhaftiert, eines Kapitalverbrechens beschuldigt und muss die Todesstrafe fürchten, ohne dass sich ihm die Umstände, die dazu geführt haben, erschließen. Und zusätzlich gerät er unter den plötzlich verschärften Umständen natürlich in Verdacht, als Spion im Auftrag der Vereinigten Staaten unterwegs zu sein. Wie der Titel des Buches verrät, ist er nun für längere Zeit in Beschlag genommen.
McGradys nächste Station ist ein Lager in Japan. Dessen Kommandant weiß über den Neuankömmling und seine Mordermittlungen nicht nur bestens Bescheid, sondern hat zufälligerweise sogar ein persönliches Interesse daran, dass sein Gefangener seine polizeiliche Arbeit erfolgreich zu Ende führt. McGrady bringt das allerdings keineswegs die Freiheit wieder, sondern nur eine neue Art Gefängnis, versüßt durch bezaubernde Liebesbande. Erst viel später wird er herausfinden, dass derweil von den Startrampen in Hawaii Hunderte schwer beladene Bomber gen Japan abheben und die verheerendsten Luftangriffe des Zweiten Weltkrieges ausführen werden.
Als unser Protagonist nach Kriegsende schließlich nach Hause zurückkehrt, ist er zwar unversehrt, doch in Honolulu ist für ihn beruflich und persönlich nichts mehr, wie es einst war. Aber das Geheimnis der Messermorde lässt ihn nicht ruhen.
James Kestrels Roman ist ein wahrlich weit ausgreifendes Epos vor dem Hintergrund eines epochalen historischen Umbruchs. Gekonnt spielt der Autor auf mehreren Genre-Klaviaturen, was für eine abwechslungsreiche Lektüre sorgt – es geht um Mord, Spionage, Politik und Krieg, ein bisschen Splatter, eine etwas zu große Portion Romantik. Da Kestrel seinem Handlungsfaden präzise und in regelmäßigem Takt folgt, behalten wir den ziemlich umfänglichen Plot ganz gut im Blick, obgleich die Vielzahl der Figuren und ihr politisch bedingtes Verwirrspiel untereinander auch uns erheblich fordert. Kestrels Sprachstil ist eingängig und ungekünstelt, die Dialoge sind kompakt.
Interessant, dass die Spannungskurve auf ihrem Höhepunkt beginnt, denn die Anfangsszenen um die blutrünstigen Morde setzen kaum zu überbietende Paukenschläge. Bis zur Auflösung dieser initialen Verbrechen, die Ermittlung der Täterschaft und der Motive muss unser eifriger Held auf eigene Faust recherchieren, der Grabendolch kommt wieder zum Einsatz, und wir müssen viele Seiten lesen, doch dank ständig neuer Wendungen ist das ein kurzweiliges Vergnügen. Erst zum Schluss schlägt die Spannungskurve hinsichtlich des Kriminalfalls noch einmal nach oben aus und belohnt uns für unsere ausdauernde Konzentration mit einem stimmigen Abschluss.
James Kestrel – Pseudonym des 1977 geborenen Jonathan Moore, eines Anwalts mit bewegter Biografie – hat seit 2013 sieben Romane veröffentlicht, von denen drei mit renommierten Preisen geehrt wurden. In deutscher Übersetzung sind »Poison Artist« (2016, dt. »Poison Artist«, 2022) und »Five Decembers« (2021, dt. »Fünf Winter«, 2023) erschienen, beide von Stefan Lux übersetzt und bei Suhrkamp verlegt.