
Willnot
von James Sallis
Ein halbes Dutzend verscharrter Leichen, eine FBI-Agentin auf der Spur eines ehemaligen Marine-Scharfschützen, der angeschossen wird und sich aus dem Staub macht: viel los in der Kleinstadt Willnot. Bedeutsamer aber ist allemal, was Dr. Lamar Hale, dem Allgemeinarzt, durch den Kopf geht.
Leben in Zwischenräumen
Tom Bales Jagdhund ist ganz aus dem Häuschen, als ihm der frühe Morgen bei der alten Kiesgrube einen intensiven Geruch in die Nase weht. Sein Herrchen informiert Sheriff Hobbes, der rückt mit ein paar Häftlingen an, und es dauert nicht lang, bis sie die ersten Knochen, dann Leichen zutage geschaufelt haben. Zur Begutachtung wird der lokale Mediziner einbestellt. Er eilt direkt aus dem OP-Saal zum Fundort, aber starker Regen vereitelt erst einmal weitere Untersuchungen.
Zeit, um Dr. Lamar Hale in den Fokus zu rücken, den gebildeten Protagonisten, unterhaltsamen Ich-Erzähler, klugen Mann für alle wichtigen Fragen des Lebens und alle medizinischen Angelegenheiten, selbst die aussichtslosen Fälle unter den Einwohnern der (fiktionalen) Kleinstadt Willnot. Denn Lamar ist als guter Arzt anerkannt, ein Allgemeinmediziner mit neuropsychologischen Fachkenntnissen. Man fragt sich, warum er nach dem Studium seine Praxis ausgerechnet in diesem Ort eröffnete, der aussieht, als lebe man in den Siebzigerjahren. Er rühmt beispielsweise die außergewöhnliche Toleranz seiner Bewohner: Keiner, so abweichend sie oder er sich auch verhalten möge, werde isoliert. Dabei ist das Städtchen (so der Sheriff) voller durchgeknallter Gestalten.
So wie unzählige Patienten einander die Klinke der Praxis in die Hand geben, so schauen sie auch alle kurz im Roman vorbei. Der engagierte Arzt stellt uns jeden einzelnen seiner Besucher vor und schenkt uns einen kurzen Einblick in die Besonderheiten jedes von Schicksalsschlägen gezeichneten Lebensweges. Wenn er nicht in seinem Sprechzimmer waltet, steht Lamar am OP-Tisch im Krankenhaus, wo er sich unverzagt jeder Herausforderung des Todes stellt – und bisweilen verliert.
Einen Gegenpol zu seiner aufreibenden Arbeitswoche (die sieben Tage umfassen kann) findet Lamar bei seinem Lebenspartner Richard. Auch der übt seinen Beruf mit Hingabe aus. Seine Gegner sind freilich nicht Krankheit und Tod, sondern Desinteresse und Ablenkung seiner Zöglinge an der Highschool. Lamar kennt sie auch aus seinem Wartezimmer: »ein bunter Salat aus T-Shirts, Shorts, Slogans, zerrissenen Jeans, gebügelten Kakihosen, Tätowierungen, langen Haaren, gar keinen Haaren, iPads und Smartphones, MP3-Playern, Schweiß, Tabakgeruch und Duftwasser«. Er beobachtet die männlichen Halbstarken »mit ihren rituellen Einzeilern, ihren Posen und der einstudierten Gleichgültigkeit« und denkt an Elias Canettis »Masse und Macht«: »Adaption und Nachahmung, Plattitüden, und wie die Anziehungskraft der Gruppe einen von der Mitte und seinem Selbst wegzieht«.
Als Kind hätte Lamar Hale auf der Suche nach seinem Selbst leicht scheitern können. Sein Vater hatte als Science-Fiction-Schriftsteller »seine Nische gefunden« und wollte darin auch seinen Sohn unterbringen – »eine Dynastie von zwei Männern, die aufrecht vor ihren Tastaturen sitzen und an der Unordnung der Welt hacken, ein Satz nach dem anderen«. Lamar widersetzte sich diesem Traum und wurde Arzt.
Neben dem enttäuschten Erwartungsdruck seines Vaters prägte den Jungen eine rätselhafte Krankheit. Sein zwölftes Lebensjahr verbrachte er im Koma, befand sich in einem Paralleluniversum. Dorthin kamen »Besucher« zu ihm, erst wenige aus der Krankenhausumgebung, schließlich aber gingen »Hunderte« durch ihn hindurch. Noch heute erlebt er im Wachzustand, dass er plötzlich nicht »hier« ist, und im unruhigen Schlaf träumt er sich in »multiplen Welten«, wo ein Geist eintritt, mit ihm spricht, wieder verschwindet.
Solch einflussmächtige Erinnerungen wie an das Zusammenleben mit seinen Sinn suchenden, nie wirklich sesshaften Eltern kommen als Flashbacks immer wieder hoch und brechen manchmal übergangslos in die Romangegenwart ein. »Das Leben muss vorwärts gelebt, kann aber rückwärts verstanden werden.«
Ach ja – die verscharrten Leichen … Häppchenweise erfahren wir noch dies und das über Fortgang und Erträge der Ermittlungen. Das Team professioneller Mitarbeiter leitet State Trooper Sebastian Daiche, dessen beachtlicher Lebenslauf (Ausgrabungen in Bosnien, New Orleans und im Sudan) seine Qualifikation illustriert. Sein »Zirkus« verwandelt den Fundort in eine Mischung aus »chaotischem Pfadfinderlager, einem religiösen Schwitz-dir-deinen-Weg-zur-Herrlichkeit-Revival und einem Marktstand für große, kistenförmige Elektronikgeräte«. Ungeachtet des Aufwands verlaufen die Analysen im Sande. Waren es vier Leichen oder sechs oder vielleicht noch mehr? Wer waren sie? Woher kamen sie? Warum starben sie? Wer weiß.
Neuer Handlungsstrang – neues Glück. Er nimmt seinen Lauf, als Brandon Lowndes nach vierzehn Jahren Abwesenheit wieder in Doc Lamars Praxis auftaucht. Mit ihm verbindet den Doktor eine gemeinsame Erfahrung, »einer dieser merkwürdigen Spiegel, mit denen einen das Leben manchmal konfrontiert«. Auch Brandon lag, ausgelöst durch einen Unfall (»landete mit sechzehn am falschen Ende eines Jungenstreichs«), lange im Koma, bis er mit den Worten »Auf der Durchreise« wieder ins Leben zurückkehrte. Auch jetzt ist »Bobby«, wie man ihn heute nennt, nur »auf der Durchreise«. Woher, wohin? Darüber schweigt er.
Etwas später sitzt eine FBI-Agentin in Dr. Hales Sprechzimmer, auch sie nicht aus Krankheitsgründen, sondern um ihn über Brandon Lowndes auszufragen. Seine Tätigkeit als Scharfschütze bei den Marines habe unrühmlich geendet, deswegen wolle sie ihn hier erwarten. Doch obwohl Brandon-Bobby ein paar Tage danach angeschossen wird, entwischt er ihr und ihrer Behörde, indem er sich aus dem Krankenhaus davonmacht.
»Willnot« , das aktuellste Werk des amerikanischen Autors James Sallis, von Jürgen Bürger und Kathrin Bielfeldt ins Deutsche übersetzt, ist ein eigenwilliger, philosophisch unterfütterter Roman. Leser, die sich davon einen »richtigen« Krimi versprechen, werden am Ende frustriert sein, denn das Buch sträubt sich gegen alle gängigen Erwartungen an das Genre. Es bietet nichts als Doc Lamar Hale und Willnot pur in all ihrem Facettenreichtum.
Der Protagonist ist ein melancholischer Existenzialist (»ein mögliches Selbst von mir erhob sich … und ging zur Arbeit«). Hoffnung und Kraft schöpft er einzig aus dem Glauben an »die Fähigkeit des Menschen, unter erheblichen Anstrengungen geringfügig besser zu sein als seine ureigenen Instinkte und Neigungen«. In Richard hat er einen idealen Partner gefunden, um im Gespräch den Fragen des Lebens und des Todes nachzugehen, die beide umtreiben – »wie es kommt, dass die Grausamkeit nie abnimmt, wie es kommt, dass wir alles in einem solchen Affenzahn verschwenden, oder warum wir Väter im Himmel brauchen«. Einvernehmlich und entspannt gestalten sie ihren Alltag, brauen nach »Bausatz« ein Omelette zusammen oder »gucken, was aus den Regalen fällt«, und verordnen sich, wenn die Weltpolitik sie allzu sehr deprimiert, zeitweise ein »Nachrichten-Embargo«. Im Hintergrund maunzt Dickens, ihre altersmüde Katze.
Während die Handlung so viele Löcher hat wie ein Schweizer Käse und die meisten Rätsel so ungelöst bleiben, wie Plotansätze im Nichts enden, so anregend, unkonventionell und überraschend ist die Erzählweise, so pointiert und hintergründig, mal amüsant, mal tiefsinnig, sind die Dialoge, so ungewöhnlich und einprägsam sind manche Bilder (»Seine Haut erinnerte mich an die Decke einer alten Gitarre.«). All dies macht »Willnot« zu einer reizvollen Lektüre. Die Krimielemente aber sind bloß der Kitt, der alles zusammenhält.