Venezia 1902 – i delitti della Fenice
von Davide Savelli
Venedig ist um 1900 ein internationaler Tummelplatz alten Adels und neuen Geldes, aufstrebender Bürger und freisinniger Künstler. Die Stadt ist dabei, ihr kulturelles Erbe aus tausend Jahren für die Moderne zu rüsten. Da kommen Morde an Touristen ebenso ungelegen wie veraltete Infrastruktur und bröckelndes Mauerwerk. Davide Savelli zeigt uns, was sich hinter den Fassaden zuträgt.
Fehlgeleitete Ambitionen
Die meisten der dreißig Millionen Touristen, die jedes Jahr Venedig überfluten, werden nicht ahnen, dass das ehrwürdigste Symbol der Stadt, der nahezu einhundert Meter hohe Glockenturm auf dem Markusplatz, nur hundert Jahre jung ist. Um die Tatsache, dass sein Vorgänger nach fast eintausendjähriger Standzeit am Vormittag des 14. Juli 1902 komplett in sich zusammensackte und ab dem Jahr darauf originalgetreu wieder aufgebaut wurde, wird erstaunlich wenig Aufhebens gemacht. Gewiss war der Einsturz den Venezianern peinlich, denn schuld daran waren ihre eigenen fragwürdigen Baumaßnahmen, um dem antiken Turm, den die Einheimischen respekt- und liebevoll El Paròn de casa (den Hausherrn) nennen, einen Aufzug einzupflanzen.
Die Umstände dieses historischen Ereignisses, das damals weltweite Bestürzung und Anteilnahme hervorrief, hat Davide Savelli, 51 und in erster Linie ein Mann der Fernsehdokumentationen, in seinen ersten Kriminalroman eingeflochten. Dessen Stärken sind weniger der Plot um einen jungen Psychopathen und seine skurrilen Verbrechen, auch nicht die solide Ermittlungsarbeit des sympathischen, durch einen früheren Schicksalsschlag belasteten commissario Guido Bordin oder die etwas holzschnittartige Zeichnung der Charaktere. Was das Buch für Venedigbesucher zu einer hübschen Begleitlektüre des Aufenthalts macht, ist, wie vielschichtig und anschaulich der Autor die historische Atmosphäre erfasst.
Der Mörder, das erfahren wir gleich am Anfang, hat eine verkorkste Kindheit und Jugend in Bayern hinter sich. Nachdem sein Vater (Förster) im Wald erschlagen wurde, gerät der Junge in die Obhut eines gestrengen Bischofs, der ihn aufzieht und aller Freuden (der Ornithologie etwa) beraubt. In seinen Tübinger Studienjahren versteigt er sich in merkwürdige Theorien über Metamorphose, das Fliegen und den sagenhaften Vogel Phönix. Praktische Versuche dazu sollen in Venedig fortgeführt werden. Ohne in der Masse der Ausländer groß aufzufallen, schließt der ernsthafte, zurückhaltende Fremde Kontakte, die ihn seinen Zielen näher bringen.
Als ein junger Deutscher aus heiterem Himmel vom Glockenturm auf die Piazza San Marco stürzt, glaubt man noch an einen Selbstmord. Als ihm Tags darauf ein Landsmann in die Tiefe folgt, sind Polizei und Verwaltung alarmiert, und die Abgebrühten scherzen schon über »i tedeschi volanti«. Jetzt muss commissario Guido Bordin rasch den Mörder finden, ehe der Ruf des Touristenmagneten Schaden nimmt. Perspektivwechsel und Rückblenden geben uns Lesern über lange Zeit einen soliden Vorsprung vor dem Polizisten und vermitteln uns obendrein ein gutes Bild seines Wesens.
Die Ermittlungen führen Bordin in illustre Kreise seiner mondänen Stadt. Da ist etwa Domenico Moresini, Patriarch einer der vornehmsten Familien der Serenissima, und seine bezaubernde Gattin Tiziana, die auch als seine Tochter durchginge. Da ist die wohlhabende deutsche Familie von Keller, in deren palazzo hemmungslose Orgien stattfinden, befeuert von modernen Drogen, für die die Glaskünstler in Murano extrafeine Spritzen entwickeln. Da sind aufstrebende Bürger wie Alvise, Buchhändler in Diensten der Moresini, dessen Leidenschaft der hochmodernen Technik des Fotografierens gilt und der mit ihren künstlerischen und kommerziellen Möglichkeiten experimentiert. Im exklusiven Cafè Florian, im Schatten des campanile, begegnen wir en passant hoffnungsvollen jungen Künstlern wie Hermann Hesse.
Da sind führende Politiker und Verwaltungsexperten, die für ihre Stadt (und sich selbst) die Zukunft sichern wollen. Seit 1847 der Eisenbahndamm aufgeschüttet, dann der Handelshafen erweitert und Italien vereint worden war, hat die Industrialisierung auch die Lagune vorangebracht. Gewaltige Fabrikanlagen auf der Insel Giudecca haben Tausende Arbeitsplätze geschaffen. Auch die Baudenkmäler sollen restauriert und modernisiert werden. Ein Aufzug würde den zahlungskräftigen Reisenden den mühevollen Aufstieg im Paròn de casa ersparen. Wer wie capomastro Luigi Bruson, Guidos Freund, zur Besonnenheit mahnt, die fragilen uralten Strukturen schonen möchte, wird als Fortschrittsfeind geschasst und durch Männer mit flexiblerer Mentalität ersetzt. (Vieles, was der Autor hier in einem reizvollen Mix aus Fiktion und historischer Wahrheit formuliert, ist – mutatis mutandis – von erschreckender Aktualität.)
So steuern beide Entwicklungen – das insgeheim betriebene Projekt des Mörders und die allzu sorglosen Maßnahmen der Verantwortlichen für das kulturelle Erbe der Stadt – auf ihre jeweiligen Katastrophen zu.
Das Buch, verfasst in vergleichsweise unkomplizierter Sprache, ist im kleinen Todaro-Verlag erschienen, und zwar in dessen Reihe Impronte, in der laut Verlagsprogramm »un’ambientazione rigorosamente locale« im Vordergrund steht: »la città o la regione dove si svolgono indagini e omicidi è anch’essa protagonista della storia«. Das ist in diesem historischen Kriminalroman, dessen Kapitelüberschriften die Handlungsorte sind, überzeugend gelungen. (Andere Romane des Verlages spielen übrigens in Mailand, Palermo, Neapel, Genua, Bologna und Rom.)