Sarah Jane
von James Sallis
Das wechselhafte Leben einer Frau aus der amerikanischen Provinz, die schließlich als Polizistin dem merkwürdigen Leben und Verschwinden ihres Kollegen nachgehen und sich am Ende, veranlasst durch einen Mordfall, ihrer eigenen Vergangenheit stellen muss.
Leben in Schneekugeln
Sarah Jane Pullman ist schon als Kind eine ungewöhnliche, selbstbewusste Persönlichkeit, die weiß, was sie will. Mit sieben notiert sie in einem Collegeblock, was sie so alles erlebt und beobachtet. Ihr Daddy nennt sie »Pretty«, »aber ich bin nicht hübsch«, entgegnet sie trocken. »Schönheit ist oberflächlich«, versichert der Vater, und auch das übernimmt sie nicht ungeprüft. Sie kratzt sich den Arm auf, was eine Narbe hinterlässt, die sie Jahrzehnte begleiten wird.
Sarah ist ein Kind vom Lande. Sie wächst mit ihrem Bruder Darnell und den Eltern auf einer Farm in Selmer (Tennessee) auf. Unermüdlich entwickeln Vater und Mutter kreative Ideen und ackern, um in dieser armseligen Gegend an der Grenze zu Mississippi ihren Unterhalt zu verdienen. Das harte Leben zermürbt. Als das Mädchen zehn Jahre alt ist, beginnt die Mutter von Zeit zu Zeit unangekündigt zu verschwinden, für Wochen und Monate, bis sie ebenso plötzlich wieder zu Hause auftaucht. Solch vagabundische Züge stecken auch in Sarah. Ihr Lebenslauf kennt keine Stetigkeit, und selbst von ihrem Elternhaus sagt sie, dass es sich »die ersten sechzehn Jahre meines Lebens darauf vorbereitete, den Hügel hinunterzurutschen« – als sie es mit siebzehn verlässt, setzt es sich tatsächlich in Bewegung.
Ohne Ziel und Plan steigt Sarah einfach in einen Bus und fünfhundert Kilometer weiter wieder aus. Auf einem ehemaligen Bauernhof in St. Louis (Missouri) findet sie eine Bleibe. Unter den Studenten, Stammgästen und Durchreisenden, die auf den Matratzenlagern des »Cracker Barn« auf unkonventionelle Weise ihre Zeit vertun, lernt Sarah jede Menge kauzige Typen wie Gregory kennen. Der »Professor« behauptet, er habe »die Unterwäsche erfunden« und »oben in Kanada eine Frau umgebracht«, und besonders spätabends »taumelten Gregorys Geschichten über die Klippe ins wahrhaft Absurde«. Weil »niemand sonst Lust dazu hatte«, lernt Sarah kochen. Dann verlässt sie St. Louis wieder, und der Autor lässt seine Protagonistin weiter durchs Leben tingeln.
James Sallis, 1944 in Arkansas geboren, ist ein mit internationalen Preisen verwöhntes Multitalent: Krimiautor, Lyriker, Kritiker, Jazz-Gitarrist. Seinen größten Erfolg hatte der Vielschreiber 2005 mit dem Roman »Drive«, der mit Ryan Gosling verfilmt wurde (»Driver«). Wie so oft fordert Sallis seine Leserschaft auch in »Sarah Jane« (2019, Übersetzung von Kathrin Bielfeldt und Jürgen Bürger. Ein systematischer Handlungsfaden will sich nicht recht zusammenfügen. In den Erzählgang mischen sich philosophische Überlegungen der Protagonistin, Gesprächsfetzen und Gedanken fließen ineinander. Texteinschübe entführen uns in neue Gegenden und Zeitphasen. Noch bevor wir gelesen haben, dass Sarah zu Hause auszieht, geht es unvermittelt in eine »gottverlassene ausländische Wüste«, wo Sarah neben »Oscar« in einem Jeep sitzt. »In diesem tödlichen Sonnenlicht kommt man echt auf schräge Gedanken … Hier draußen … können Worte anfangen, sich einem zu entziehen. Sätze verlieren ihren inneren Zusammenhalt, haben Löcher. Verben fallen heraus, Antworten passen nicht mehr zu Fragen.« So ganz nebenbei erfahren wir, dass Sarah ein Kind geboren hat, das wenige Stunden später starb. Genauso müssen wir die kurz danach vorbeiplätschernden Eindrücke eines Gerichtsprozesses abspeichern und die Bemerkung »Wir setzen uns wieder in Bewegung. Oscar mit weniger als einer Stunde zu leben«. All diese Puzzlestücke bereiten irgendwie den Weg. Sinn ergeben sie erst sehr viel später.
So viel sei skizziert: Sarah meldet sich (mehr oder weniger freiwillig) für einen Militäreinsatz im Irak, kehrt traumatisiert zurück, arbeitet als Köchin, bringt mehrere unglückliche Beziehungen hinter sich, holt ihren Collegeabschluss nach, wird schließlich eine engagierte Polizistin und findet in ihrem Vorgesetzten Calvin Phillips einen Seelenverwandten, dem gegenüber sie sich öffnen und über ihre Vergangenheit sprechen kann.
In diesem Kontext nimmt eine raffinierte Kriminalgeschichte Gestalt an, die allerdings erst zum Ende hin kulminiert. Ein Verbrechen, das mehrere Jahre zurückliegt, holt Sarah ein, als ein FBI-Mann auftaucht, um in ihrem Umfeld zu recherchieren. Als er eines Tages mit gebrochenem Genick gefunden wird, sind die Umstände seines Todes schwer zu klären, und Sarah, die mehr ahnt, als sie preisgibt, gerät unter Druck. Es stellen sich Fragen nach der Zuverlässigkeit unserer Wahrnehmungen und Erinnerungen, nach unserer Fähigkeit zu begreifen, Schuld zu erkennen und anzuerkennen, uns der Verantwortung zu stellen oder vor ihr zu fliehen.
Obwohl er keine leichte Kost bietet, besticht Sallis’ Roman durch seine sprachlich-stilistisch und inhaltlich ungewöhnliche Machart. Neben der wilden Erzählstruktur leistet sich der Autor verschwenderischen Umgang mit seinem Material. Welcher Autor kann es sich erlauben, Episoden mitten aus dem Irak-Krieg als bloße Andeutung links liegen zu lassen, anstatt sie so erschütternd wie spannend auszugestalten? Sallis komprimiert in eine Satz-Portion Sarkasmus, was der Krieg angerichtet hat: »In der Zeit, die Sie aufwenden, um über die letzte Bauchstraffung eines Prominenten zu reden, verüben 44 Veteranen Selbstmord.«
Wie originell die Ich-Erzählerin über ein altes Auto spottet, diene als Beispiel für die kreative Beschreibung von Gegenständen: »Der klapprige Dodge in der Einfahrt erinnerte mich an einen Hund, dessen Herrchen nicht mit ihm Gassi ging, so dringend es auch sein mochte.« Außergewöhnliche Beobachtungen lassen uns innehalten (»Wir leben in Schneekugeln, nicht wahr? Nimm sie in die Hand, schüttle sie kräftig, die Jahre wirbeln um einen herum und beruhigen sich dann.«), und immer wieder frappieren die Beschreibungen von Figuren (»nicht bei dieser kultivierten Anwältin mit ihrem maßgeschneiderten Kostüm und dem kunstvoll drapierten Seidenschal. Vielleicht würde sich, wenn ich nur richtig hinstarrte, der Schal zusammenziehen und sie langsam erwürgen. […] Mein vom Gericht bestellter Anwalt sah aus wie maximal sechzehn, sein Schopf erinnerte an Schamhaar, das Doppelkinn war ein Ersatz für den Seidenschal der anderen.«). Weitere Appetitanreger: »Ein Typ aus dem besseren Teil der Stadt kam mit einer Schar menschlicher Echos, die auf Zehenspitzen hinter ihm herschlichen.« – »Boomtown war keine Stadt, sondern eine Anlagerung. Eine Art Gezeitentümpel.« – »Das Schlimmste kommt nicht unbedingt im Dunkeln, wie man vermuten würde, sondern in den frühen Morgenstunden, wenn man um fünf oder Viertel nach fünf aufwacht, während sich die Welt draußen wieder rekonstruiert und Fragmente deines Lebens dir im Kopf herumscheppern wie lose Zähne in einer Tasse«.
Nein, einfach und flüssig zu lesen ist »Sarah Jane« nicht, aber ein intellektuelles Vergnügen.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Herbst 2021 aufgenommen.