Rezension zu »Sommer bei Nacht« von Jan Costin Wagner

Sommer bei Nacht

von


Ein Mann entführt einen kleinen Jungen von einem Schulhof. Wie das Team von problembeladenen Polizisten ermittelt und den Fall löst, erzählt Jan Costin Wagner auf ungewohnte, originelle Weise.
Kriminalroman · Galiani · · 320 S. · ISBN 9783869712086
Sprache: de · Herkunft: de

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.
Gebundene Ausgabe E-Book Hörbuch CD

Das Böse im Guten

Rezension vom 21.03.2020 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Es braucht keine Seite, da wissen wir schon, wer der Täter ist und was er ange­stellt hat. Marko (so die Kapitel­über­schrift) hat in einem Wies­badener Spiel­zeug­laden zwei große, flau­schige Stoff-Teddy­bären gekauft, erregt damit das Interesse eines Jungen auf dem Schulhof einer Grund­schule und entführt ihn in seinem Auto.

Erzählt wird das in äußerst knappen Einfachsätzen, die jedoch die Innen­wahr­neh­mung des Mannes auf erstaun­lich beklem­mende Weise offen­legen (»Etwas rastet ein. Seine Hand in der Hand des Jungen und noch etwas. Etwas anderes. Sie laufen. Er spricht. […] Alles ist anders, alles neu.«).

Während wir den Sätzen nach­hängen, ihre Trag­weite spüren, beginnt ein neues Kapitel­chen mit der Über­schrift »Ben« und wirft uns mitten in die rätsel­haft verloren anmutende Situation einer anderen Figur (»Steht allein auf dem Feld. […] Er spürt, dass er sterben wird.«). Der Sprach­stil ist fast gleich – nur sind viele Sätze nur noch Fetzen, was das Bild noch geheimnis­voller macht. Damit ist Ben Neven einge­führt, ein Ermittler der Wies­badener Kriminal­polizei, den sein Kollege und Einsatz­leiter Christian Sander soeben wegen einer Entfüh­rung zu einer Grund­schule ruft. Nach einein­halb Seiten beginnt schon das Kapitel »Christian«.

Nach diesem Strukturprinzip geht es die nächsten drei­hundert Seiten weiter. Im Druckbild deutlich abge­trennt, enthüllt jedes Kapitel die Sicht­weise einer hand­lungs­tragen­den Person und gibt uns Einblicke in ihre Beobach­tungen, Über­legungen, Befind­lichkei­ten und Gespräche. Äußere und innere Handlung halten sich die Waage. Oft ist nicht auf Anhieb nach­zuvoll­ziehen, was da an Gedanken- und Satz­brocken, Impres­sionen und Assozia­tionen durch ein Gehirn irrlich­tert. Das kann poetische Quali­täten annehmen: »… durch den flirren­den Sommer. Die Wärme prallt ab. Er versucht sie aufzu­fangen, wie einen Ball, wirft sie zurück an die Wände der grauen Häuser.« … Wenig später: »Die grauen Wände der Häuser sind jetzt auf der anderen Seite, spiegel­verkehrt … die Wärme prallt nicht mehr ab, sie schmiegt sich an ihn, hüllt ihn ein. Der Junge läuft an seiner Hand.«

Über das im Mittelpunkt stehende Verbrechen und die Suche nach dem Täter wirken die Einzel­perspek­tiven auf unter­schied­liche Weise aufein­ander ein, stellen sich in Frage, ergänzen oder wider­legen einander.

Mit seiner Reihe um den finnischen Kommissar Kimmo Joentaa [› Rezension] erlangte der Autor Jan Costin Wagner viel Anerken­nung (u.a. den deutschen Krimi­preis) und eine treue Leser­gemeinde. Mit seinem soeben erschie­nenen Kriminal­roman »Sommer bei Nacht« wagt er sich mutig an eine neue gestalte­rische Form, die interes­sant, aber zweifel­los gewöh­nungsbe­dürftig ist.

Durch die multiperspektivische Erzählweise verbunden mit der eigen­willigen Sprach­gestalt ist die Charakter­zeich­nung gebrochen und kompli­ziert. Das passt gut zu den Protago­nisten, denn alle Ermittler sind viel­schich­tige Persön­lichkei­ten, mit deren dunklen Façetten der Autor zu spielen scheint. Zwar agieren sie auf der Seite der ›Guten‹, gleich­zeitig ist sich jeder der in ihm schlum­mernden Abgründe bewusst. Dazu gehören sogar Neigungen, die sie mit dem pädo­philen Täter teilen.

So punktet Wagners Neustart für eine neue Reihe durch die Erzähl­technik, während die Handlung recht konven­tionell daher­kommt. Die Spannung hält sich in Grenzen, atem­berau­bende Knüller und Wendungen bleiben aus. Die Spuren­sicherer unter­suchen einen Teddy, den der Entführer auf dem Schulhof zurück­gelassen hat. Die Verhöre beginnen im inneren Zirkel der Familie des ent­führten Fünf­jährigen und zeichnen Bilder des Jungen, seiner Mutter und des Vaters, eines Synchron­sprechers mit markanter Stimme für Fernseh­serien und Werbe­spots.

Eine der sensibel treibenden Personen des Ensembles ist die große Schwester Sarah, die ein gutes Gespür für Unge­reimt­heiten hat: »Mit dem Mann stimmt was nicht, und mit ihr stimmt auch was nicht.«, »Der Raum ist zu kühl, die Poli­zisten sind zu ernst.«

Trotz steigenden Aufwands – Hubschrauber und weiteres Personal – bleiben die Ermitt­lungen lange aussichts­los. Doch die Statistik gibt Zuver­sicht: Fast alle vermiss­ten Kinder bis vierzehn Jahre werden unbe­schadet wieder aufge­funden. Unter den wenigen unaufge­klärten Fällen stößt man auf einen, der dem aktuellen Fall sehr ähnlich scheint.

Mehr Inhaltliches zu verraten würde dem recht einspurigen Krimi­geschehen zu viel Substanz weg­nehmen. Da der Leser den Täter von der ersten Seite an kennt und den polizei­lichen Ermitt­lern stets voraus ist, durch­schaut er den Plot leicht und kann sich auf die außer­gewöhn­liche Gestal­tung der Sprache und der Charak­tere konzen­trieren. Das differen­ziert angelegte Team der Ermittler – alles diffuse Per­sönlich­keiten, die der Fantasie Freiraum für eigene Mut­maßun­gen und Urteile lassen – bietet genug Potenzial und Zünd­stoff für die Fort­führung einer Reihe – wenn das neue Konzept denn genug Zuspruch findet.


Weitere Artikel zu Büchern von Jan Costin Wagner bei Bücher Rezensionen:

Rezension zu »Einer von den Guten«

go

Rezension zu »Sakari lernt, durch Wände zu gehen«

go

Rezension zu »Tage des letzten Schnees«

go

War dieser Artikel hilfreich für Sie?

Ja Nein

Hinweis zum Datenschutz:
Um Verfälschungen durch Mehrfach-Klicks und automatische Webcrawler zu verhindern, wird Ihr Klick nicht sofort berücksichtigt, sondern erst nach Freischaltung. Zu diesem Zweck speichern wir Ihre IP und Ihr Votum unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Ja« oder »Nein« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.

»Sommer bei Nacht« von Jan Costin Wagner
erhalten Sie im örtlichen Buchhandel oder bei Amazon als
Gebundene Ausgabe E-Book Hörbuch CD


Kommentare

Zu »Sommer bei Nacht« von Jan Costin Wagner wurde noch kein Kommentar verfasst.

Schreiben Sie hier den ersten Kommentar:
Ihre E-Mail wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Ihre Homepage wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Hinweis zum Datenschutz:
Um Missbrauch (Spam, Hetze etc.) zu verhindern, speichern wir Ihre IP und Ihre obigen Eingaben, sobald Sie sie absenden. Sie erhalten dann umgehend eine E-Mail mit einem Freischaltlink, mit dem Sie Ihren Kommentar veröffentlichen.
Die Speicherung Ihrer Daten geschieht unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Senden« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.


Go to Top