Manhattan Beach
von Jennifer Egan
Ein zartes und doch starkes Mädchen geht entschieden seinen Weg und setzt sich in der Männerdomäne der Militärtaucherei durch. Aufregendes erlebt sie nicht nur bei ihrer Arbeit und im Zweiten Weltkrieg, sondern auch an Land, wo sie seit ihrer Kindheit mit der großen Depression und dem organisierten Verbrechen zu tun hat.
Anna Kerrigan, Militärtaucherin
Die langgestreckte Luxuslimousine, in der Edward Kerrigan über den Ocean Parkway gleitet, gehört ihm nicht. Er hat nicht einmal einen Job. Wie viele andere steht er täglich an den Docks von Brooklyn und sucht Arbeit. Es ist das Jahr 1934, und die große Depression fordert ihre Opfer. Nur in der Schattenwelt gibt es Geld zu holen. Als Laufbursche für die korrupte Gewerkschaft kann Eddie ein paar Dollar verdienen, um seine vierköpfige Familie einigermaßen über Wasser zu halten.
Der Wagen bringt Eddie zum beeindruckenden Familiensitz von Dexter Styles, bei dem er eine Anstellung zu finden hofft. Dexter, ein jugendlicher, energiegeladener Mafioso, besitzt Nachtclubs, Bars und illegale Spielhöllen. Man unterhält sich im diskreten Garten mit Strandblick und wird sich einig.
Stärker als Eddie beeindruckt den Gangsterboss allerdings seine Begleiterin: die elfjährige Tochter Anna. Das außergewöhnliche Mädchen (»sie ist stark«) zieht mal eben die Strümpfe aus und läuft durch den kalten Schnee. Auf Dexters überraschte Neugier reagiert sie gelassen: »Tut nur am Anfang weh … nach einer Weile spürt man nichts mehr«. Dass diese ganz zart erotisch angehauchte Begegnung nicht die letzte sein wird, kann man zwischen den Zeilen spüren.
Die Handlung springt dann in das Kriegsjahr 1942, als die Japaner Pearl Harbor, das Hauptquartier der US-Pazifikflotte auf Hawaii, angegriffen haben. Die Familie Kerrigan ist aufgelöst. Eddie ist seit fünf Jahren verschwunden. Die jüngere, von Geburt an hirngeschädigte Tochter Lydia ist gestorben, Mutter Agnes zu ihren Eltern nach Minnesota gezogen. Anna, inzwischen zwanzig Jahre alt, wohnt allein in der Wohnung in Brooklyn. Da viele Männer auf den Schlachtfeldern rund um den Globus eingesetzt sind, müssen Frauen ungewohnte Arbeiten verrichten. Anna vermisst in einer Werft der Navy am East River winzige Metallteile mit einem Mikrometer für den Krieg. Aber das blutige Geschehen, wo die Gegenstände angewandt werden, ist weit weg.
In den Mittagspausen läuft die junge Arbeiterin an den Docks entlang. Sie ist fasziniert von den Tauchern, die unter Wasser gefährliche Reparaturen an den von feindlichen Torpedos getroffenen Schlachtschiffen vornehmen, und beschließt, sich selbst als Marinetaucherin zu bewerben. Ihr Vorhaben stößt anfänglich auf heftige Ablehnung. Doch die nur fünfzig Kilogramm leichte Anna zeigt allen, dass sie in dieser Männerdomäne durchaus mithalten kann. Und tatsächlich weichen Hohn und Spott der Kollegen schon bald stiller Bewunderung, denn Anna beweist auch in kniffligsten Situationen Besonnenheit, Mut und Stärke.
Nach Feierabend ist Anna mit ihrer Freundin im Gedränge verräucherter Bars und nach allerlei Ausdünstungen riechenden Nachtclubs unterwegs, wo angetrunkene Soldaten auf Heimaturlaub beim Landgang in der Metropole Ablenkung suchen. Als sie eines Tages auf Dexter Styles trifft, erkennt der das kleine Mädchen von einst nicht wieder, nimmt aber durchaus die attraktive junge Erwachsene vor sich wahr. Für ihn haben sich mit dem Kriegseintritt seines Landes neue Möglichkeiten eröffnet. Das Geld, das er mit Alkoholschmuggel während der längst abgelaufenen Prohibitionszeit, mit Glücksspiel und anderen zwielichtigen Geschäften eingenommen hat, kann er jetzt in Kriegsanleihen investieren und blitzsauber waschen. Aber einer wie er lebt natürlich in ständiger Angst, dass ihm jemand auf die Schliche kommt, ihn verrät oder ihm seinen Platz abnimmt, seien es Rivalen oder Vertraute.
Jennifer Egan, Pulitzer-Preisträgerin und Bestsellerautorin, entführt uns in ihrem neuesten Fünfhundert-Seiten-Schmöker »Manhattan Beach« (Übersetzung: Henning Ahrens) in aufregende, schwierige Zeiten zwischen Weltwirtschaftskrise und Weltkrieg. Letzterer bleibt allerdings im Hintergrund, während eine ganze Reihe anderer Themen (das schwierige Leben der Familie Kerrigan, die üblen Geschäfte des Gangstersyndikats, Annas Arbeit in der Werft und unter Wasser, ihr Privatleben) die episch breite Erzählung dominieren. Sie ist in acht Kapitel unterteilt. Episoden voller Spannung, Emotionen und auch Grausamkeiten folgen rasch aufeinander, die diversen Handlungsstränge greifen ineinander, Erzählperspektiven, Schauplätze und Zeitebenen wechseln kurzweilig. Am Ende ist nicht jedes Geschehen restlos aufgeklärt – der Leser darf manche Lücke nach eigenem Gutdünken füllen.
Die breite Streuung der Erzählgegenstände sorgt dafür, dass das Interesse des Lesers nicht nachlässt. Zum Beispiel beschreibt die Autorin in allen Details Annas viele Kilogramm schweren Tauchanzug mit Bleigürtel, Schuhen aus Stahl und den vor dem Abtauchen aufzuschraubenden Helm aus Messing. Anrührend sind die Szenen aus Annas Kindheit, wie sie und ihre Mutter sich hingebungsvoll um Lydia kümmern, wie sich Anna an die geliebte Schwester kuschelt und ihr ihre intimsten Geheimnisse ins Ohr wispert, wie sie die Schwester zur grimmigsten Winterzeit im Rollstuhl nach Manhattan Beach schleppt, damit sie wenigstens einmal das Meer bewundern kann. Ein Handlungsstrang, der für einen eigenen Roman taugen würde, erzählt von einem dramatischen Schiffbruch vor Afrika und dem noch viel dramatischeren Schicksal der Seeleute.
Jennifer Egans Protagonistin, die starke Anna, repräsentiert die vielen Frauen, die in den Weltkriegen harte Männerarbeit übernehmen mussten, ob in der Rüstungsindustrie, in der Landwirtschaft oder in anderen Bereichen, und die der Emanzipation der Frauen den Weg bereitet haben.