Blauauge im Cyberspace – eine Internet-Scheherazade?
Ein 42-jähriger Mann lebt bei seiner Mutter Gloria, auf deren Hilfe er angewiesen ist. Sie achtet täglich auf die richtige Medikation, bringt ihm den Vitamintrunk. Er sitzt in seinem Zimmer und hat das Haus wohl noch nie verlassen. Die einzige Möglichkeit, mit anderen Menschen zu kommunizieren, bietet ihm das Internet. Er nennt sich "Blauauge" und hat eine Plattform gegründet: boesebuben [at] webjournal.com. Täglich teilt er sich in Blog-Einträgen mit, ist stolz wie ein Pfau und erwartet große, lobende, motivierende Resonanz. Mit der Musik aus seinem iPod hat er die Wirklichkeit um sich herum völlig ausgeschaltet.
Seine Gedanken kreisen um seine Mutter: Er hasst ihr aufdringliches Parfum L'Heure Bleue und ihre entsetzliche Sammlung grässlicher Porzellanhunde.
Immerzu aber verfolgt ihn das Böse. In seinen Blogs philosophiert er über den perfekten Mord. Er teilt seinen Lesern mit, er habe schon im Mutterleib getötet, indem er seinen Zwillingsbruder heruntergeschluckt habe. Seine beiden Brüder, Nigel und Brendan, sind als schwarz bzw. braun gekleidet klar zu unterscheiden. Nigel stirbt bei einem Autounfall, aber Brendans Geschichte ist sehr undurchsichtig.
Als Kontrapunkt zu Blauauge hat die Autorin Albertine, ebenfalls eine fleißige Bloggerin, eingeführt. Durch ihre Darstellungen ist man als Leser zunächst geneigt, Blauauges Verflechtungen mit dem Arzt Dr. Peacock und einem Mädchen namens Emily besser zu verstehen. Doch dann kommen unweigerlich Zweifel an Albertines Identität auf, die alles Gelesene wieder in Frage stellen ...
Blauauge (wie auch dem Leser) ist klar, dass das Netz eine virtuelle Welt ist, in der jeder seinen geistigen Müll – Pornos, Mordgeschichten und was auch immer – abladen kann. Es gibt nichts, was es nicht gibt, und Fiktion und Realität sind dort kaum noch zu unterscheiden. Ist der User wirklich der, der er zu sein scheint?
Das Cover, der Buchtitel, der Name des Bloggers – alles wird von der Farbe Blau bestimmt. In der Psychologie steht die klare, kalte Farbe für Kreativität und Ruhe. Sie ist die Lieblingsfarbe der Melancholiker. Ist Blauauge, der Protagonist, also ein in sich gekehrter, klar denkender Mensch auf der Suche nach Wahrheit? Ist er ein psychisch kranker Irrer, der uns Leser in die Abgründe eines fiktionalen, unvorstellbaren Mörderhirns führt? Oder ein Genie? Perfekte Verwirrung!
Lesen Sie diesen absolut ungewöhnlichen Krimi. Lassen Sie sich auf die Welt von Blauauge ein. Er sagt Ihnen, was Sie glauben sollen, "aber je deutlicher er wird, desto weniger sind Sie bereit, ihm zu glauben" (S. 452). Sie werden Ihr blaues Wunder erleben.