Rezension zu »Kapital« von John Lanchester

Kapital

von


Belletristik · Klett-Cotta · · Gebunden · 682 S. · ISBN 9783608939859
Sprache: de · Herkunft: gb

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Wenn ich einmal reich wär' …

Rezension vom 08.06.2013 · 9 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

… wäre ich dann anders als heute? Was stellt Geld mit den Menschen an, die nach ihm streben bzw. denen es zufällt? Nur einige der vielen Fragen, die ein Roman mit einem so evokativen Titel erörtern wird. Karl Marx’ folgenreiches Werk »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie« (ab 1867) schwingt mit, wes­wegen man auch mit einem Portiönchen Kapitalismus­theorie und -kritik rechnen darf.

2012 in Großbritannien erschienen, beschreibt John Lanchesters »Kapital« das London des Jahres 2008 – da implodierte die Bank der Lehman Brothers und leitete eine jahrelange weltweite Krise ein. Welche Ein­blicke in die Hintergründe und Machenschaften eines vibrierenden globalen Finanzzentrums erwarten uns da wohl?

Das Epizentrum seiner Romanwelt verortet der Autor in der »Pepys Road«. Samuel Pepys (1633-1703) ist bis heute berühmt durch seine Tagebücher, die der Nachwelt ein umfassendes Bild des Alltagslebens und kluge wie kritische Zeitanalysen hinterließen und dazu noch genüsslich zu lesen sind. Ein Vorbild für Lan­chester?

Um es kurz zu machen: Von diesem vollen Theorieprogramm ist das wahre »Kapital« ziemlich weit ent­fernt – und doch ein absolut lesenswertes Stück Literatur.

Der Klappentext grenzt die Aussichten fair ein und fasst den tatsächlichen Inhalt quasi ernüchternd zu­sam­men: Es geht schlicht um die ganz privaten Schicksale einiger Bewohner einer Straße südöstlich der Lon­don City, die ebenso gut »Waller Road« oder »Jerningham Road« heißen könnte, solange sie denn einen ebenso rasanten Aufschwung der Immobilienpreise erlebt wie die »Pepys Road«: Die beginnen bei einer Million Pfund; dreieinhalb Millionen sind auch drin. Und die Tendenz steigt, je aberwitziger die Spe­ku­la­tion in der nahen City blüht und die mit siebenstelligen Boni ausgestatteten Banker, ohne mit der Wimper zu zucken, alles kaufen, was käuflich ist …

Die Protagonisten – kaum mehr als etwa ein Dutzend – leben oder arbeiten in dieser Straße. Sie sind höchst unterschiedlich (Herkunft, Beruf, Einkommen, Ziele, Überzeugungen, Lebensführung), aber nicht auf repräsentativ getrimmt (für bestimmte Klassen o.ä.); alle sind erfreulich überzeugende Individuen, die der Autor äußerst sorgfältig, differenziert und rund gestaltet und über 107 Kapitel hinweg mit nicht nach­las­sen­der Zuneigung hegt und pflegt.

Wie unser aller Leben wird natürlich auch ihres von Geld beeinflusst, jedoch eher weniger als mehr. Die Aussicht auf einen lukrativen Auftrag, auf Karriere oder ein Erbe ist attraktiv, deformiert die Charaktere aber nicht: Sie bewahren sich ihre Menschlichkeit – oder machen sich auf die Suche. Als recht flach pro­gram­mierte Typen erscheinen die Bankmanager, die doch das ganze Schlamassel im Hintergrund ein­brocken, sowie ein paar überdrehte Konsumweibchen, die vor lauter Egozentrik jegliches Potenzial für Mit­ge­fühl verloren haben.

Es geht Lanchester also gerade nicht um eine in Handlung verpackte Kapitalismus- oder Gesellschafts­kritik, sondern um pures gutes Erzählen in bester britischer Tradition. Nicht einmal die penetranten, myste­riösen Botschaften, die den Anrainern zugehen (»Wir wollen was ihr habt«), sich wie ein roter Faden durch die Seiten ziehen und ein Krimi-Motiv säen, gewinnen die Oberhand im Plot, sondern dienen lediglich als Katalysatoren der Charakterentfaltung.

Lehnen Sie sich also entspannt zurück und durchleben Sie die Jahrzehnte, die Petunia Howe im Haus in der Pepys Road mit dem sorgsam gehegten Garten voller Blumen, Hecken und Beete verbrachte; wie sich die Straße langsam veränderte; leiden Sie mit der feinsinnigen Dame alten Stils, wie sie durch das Räder­werk eines anonymen Gesundheitssystems bugsiert wird, in dem nicht einmal ihr Name korrekt gewürdigt wird.

Beobachten Sie Petunias Tochter Mary Leatherby, wie sie ihre todgeweihte Mutter pflegt, mit allem, was dazugehört an Tätigkeiten, Zweifeln, Ekel, guten Vorsätzen, Reue, Skrupeln, bitterbösen Gedanken, Ein­sicht in das Notwendige …

Lesen Sie, was Quentina Mkfesi, Hochschulabsolventin aus Nigeria und in London illegal als Strafzettel­verteilerin arbeitend, durch den Kopf geht, wenn sie Regelverstöße ahndet; welche Wirkung Machinko Wilsons Weihnachtsliederstimme auf sie ausübt; welche Prozesse sich in intelligenten Menschen voller guten Willens abspielen, wenn sie in Abschiebehaft geraten und keinerlei Ausweg erhoffen können …

Staunen Sie, wie ein siebzehnjähriger begnadeter Fußballvirtuose aus dem Senegal mit seinem Papa nach London gelockt und dort von einer monströsen Hydra aus Vereinsmanagern, Medizinern, Versicherungs­spezialisten und Anwälten verschluckt wird …

Genießen Sie, wie Matya Balatu, das ungarische Kindermädchen, sich verwöhnter Kinder annimmt, in das Visier der reichen Väter gerät und sich doch nicht verbiegen lässt.

Schmunzeln Sie, wie Zbigniew, der polnische Handwerker, geschickt sein Geschäftskonzept plant und rea­lisiert (Hauptsache anders als die bequemen englischen Kollegen) und klaglos hinnimmt, dass man ihn der Einfachheit halber »Bogdan« ruft.

Nehmen Sie Einblick in die rührige Familie des Tante-Emma-Laden-Betreibers Ahmed, allesamt Pakistani und pragmatisch akklimatisiert, bis auf Bruder Shahid, der seine Rolle nicht recht findet, ehe er den Islam für sich entdeckt und tolpatschig, wie er ist, mitten hinein in eine Anti-Terror-Aktion schliddert.

Der Eindruck trügt nicht: London stellt sich als multikultureller Schmelztiegel dar, und viele leben hier im Fahrwasser der atemberaubenden Finanzgeschäfte einen British Dream.

Eine zentrale Rolle spielt – als Arbeitgeber, Investor, Imagegeber, Spannungsträger und Fenster ins Ban­kenwesen – die Famile Yount: Bankmanager Roger, Gemahlin Arabella und die zwei Knaben Conrad und Joshua. Wahrhaft beeindruckend ist die Schilderung ihres obszön überzogenen Reichtums und seiner hoh­len Verschwendung: Häuser, die regelmäßig umgebaut werden, nur weil sich die Badezimmermode ändert, komplette Spielzeug-Sortimente in eigens ausgebauten Seitenflügeln, Jagd und Yacht, Wellness-Wochen­enden für ein Durchschnittsmonatsgehalt, Restaurants, Elektronik und Tüten voller Edelkleidung, dazu Personal für alles, was Mühe machen könnte …

Die Sinnlosigkeit ist augenfällig: Trotz berstender Schränke werden immer neue Warenlieferungen ange­schleppt; trotz permanenten Müßiggangs jammern die blasierten Ehefrauen, sooo viel zu tun zu haben; das Leben im Schlaraffenland macht sie missgünstig, ja bösartig.

Die alleinverdienenden Ehemänner sitzen derweil in der Zwickmühle. Einerseits ist ihre Lage geradezu prekär, denn der irrwitzige Lebensstandard ist durch Gehalt und Boni kaum gedeckt, die glücksspielhafte Einkommensquelle höchst unsicher. Andererseits verlocken die schiere Höhe der zur Verfügung stehenden Summen und der (damals) fiebrige Optimisimus, es könne nur noch weiter aufwärts gehen, zu immer groß­spurigeren Investments; ständig werden sie gehetzt von der Suche nach neuen Ideen, welches exklusive Hobby-Equipment sie nun noch anschaffen müssten, um … ja, wozu eigentlich? Diese Einblicke fand ich interessant – und abstoßend.

Will Lanchester uns Normalbürger vielleicht trösten und beruhigen – »Was für arme Existenzen die Ban­ker doch sind …«?

Die Wege all dieser Personen berühren und beeinflussen einander zum Teil, steuern aber nicht auf ein ge­meinsames Finale hin, etwa um in erster Linie rückblickend Rätsel zu lösen. Nein, dieser Roman klingt aus mit vielen (nicht nur schönen) Perspektiven; die letzten Worte sind (und hiermit verrate ich ja nichts): »Ich kann mich ändern.«

Das große Vergnügen, dieses Buch zu lesen, entsteht durch des Autors Schwelgen in Details. Kein Hand­schlag, ohne dass zuvor das Wie und Warum reflektiert würde; kein Dialog, in dem wir nicht die Meta­ebene miterleben dürften, was in den Köpfen abläuft; kein Gegenstand, um den sich nicht eine kleine Ge­schichte rankte; und all die vielen, vielen Absätze voller Erinnerungen, Erfahrungen, Erörterungen …

Große Verdienste um den Lesegenuss hat sich die Übersetzerin Dorothee Merkel erworben. Der Sprachstil ist vollständig authentisch, zum allergrößten Teil gehoben, wo nötig deftig, bisweilen ganz sacht ironisch; die Wortwahl ist makellos, differenziert und vielfältig – eine in sich durch und durch überzeugende Ge­stal­tung (deren Nähe zum englischen Original »Capital« John Lanchester: »Capital« bei Amazon ich nicht beurteilen kann).

Auch wenn die Kapitalismuskritik ausbleibt, bereichert dieser Roman also. Zusätzlich zum Lesevergnügen erfahren wir eine Menge über Menschen, über London, über Immobilien, Autos und shopping – und ein bisschen was über Derivate und Währungsspekulation.


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