Die Psychopathen sind unter uns: Eine Reise zu den Schaltstellen der Macht
von Jon Ronson
Eine steinige Lektüre
Was ist das eigentlich – ein Psychopath? Das Hauptmerkmal der schweren Persönlichkeitsstörung, unter der der Psychopath leidet, ist, dass er Empathie-unfähig ist, infolgedessen kein Mitgefühl und keine soziale Verantwortung kennt (manche verwenden »Soziopath« als Synonym). Davon abgesehen wirken Psychopathen meist durchaus sympathisch auf ihre Umgebung. Sie wissen ihre Mitmenschen für sich zu gewinnen und oberflächliche Beziehungen zu ihrem Vorteil zu pflegen. Im Volksmund wird das Etikett »Psychopath« oft vergeben, um kaltblütige Kriminelle oder allgemein emotional Unkontrollierte zu bezeichnen.
Der britische Autor Jon Ronson, der sich als engagierter Journalist und Dokumentarfilmer international einen Namen gemacht hat, nahm sich vor, zu untersuchen, wie die »offizielle« Psychologie mit dieser Störung umgeht – wie also kann man Psychopathie definieren, diagnostizieren, therapieren, bewerten? -, und er wollte die üblichen Theorien und praktischen Verfahren kritisch durchleuchten.
Ronson ist allerdings kein traditioneller Wissenschaftsjournalist, der die Sachverhalte objektiv, kritisch distanziert und ordentlich belegbar präsentiert, sondern ein Vertreter des im angloamerikanischen Sprachraum populären »Gonzo journalism«, in dem die Recherche-Ergebnisse in einer unterhaltsamen Mischung aus Bericht, Erzählung, szenischer Reportage, Dialog, Erklärung und Kommentierung vermittelt werden. Die durchgehende Selbstbespiegelung, die persönlich geprägte Stoffauswahl und Perspektive sowie der von subjektiven Äußerungen inklusive Ironie und Zynismus durchzogene Text machen solche Traktate selbstverständlich angreifbar, aber eben auch emotional wirkungsstark. Andererseits führt der Verzicht auf einen systematischen Aufbau (mit Definitionen und stringenter Argumentation einschließlich komplexem Satzbau und differenzierten Konjunktionen) im schlimmsten Fall dazu, dass unverbindliches Geschwafel und Küchenpsychologie die Seiten füllt …
Ronson unterhielt sich in Großbritannien und Nordamerika mit »Psychopathen« (echten, vermeintlichen, falsch diagnostizierten – je nach Definition), mit Psychologen, Scientologen (den natürlichen Feinden der offiziellen Psychologie), mit Mördern, Verschwörungstheoretikern, dem Anführer einer brutalen politischen Todesschwadron aus Haiti, mit Pharma-Lobbyisten und CEOs … Er besuchte Seminare, Kliniken, Gefängnisse und Vorstandsetagen, rekapitulierte groteske Behandlungsmethoden aus den Fünfziger und Sechziger Jahren, und er »blätterte« (S. 37) Fachtexte – insbesondere das DSM-IV-TR-Handbuch, das für jede der 374 Typen menschlicher Verhaltens- oder Befindlichkeitsabweichungen einen Kriteriensatz aufführt, und die von Robert D. Hare initiierte Checkliste zur Psychopathie. Untersucht man einen »Patienten« mit Hilfe solcher Kataloge, bewertet also z.B. mit 0 bis 2 Punkten, in welchem Maße jedes Kriterium auf ihn zutrifft, so entsteht eine (vermeintlich) objektive Diagnose. Diese Kompendien sind von Auflage zu Auflage umfassender und differenzierter geworden, bieten dem Fachmann inzwischen auch maßgefertigte Fragebögen, und sie haben die Zahl der Menschen mit einer offiziell konstatierten Persönlichkeitsstörung explodieren lassen, da jede/r von uns den einen oder anderen Punkt kassieren wird, und schon ist die Schwelle von etwa 20 bis 30 Punkten erreicht …
Vorteile aus dieser fragwürdigen Entwicklung ziehen die Pharmaindustrie, die Psychiater und die Versicherungsgesellschaften; Leidtragende sind die Menschen, die für den Rest ihres Lebens mit einer nicht mehr tilgbaren, womöglich zweifelhaften Diagnose versehen werden. Das sind tragischerweise immer mehr Kinder, denen man (bereits mit vier Jahren!) eine normabweichende Psyche attestiert, um sie medikamentös in den Griff zu bekommen, obwohl ihr Verhalten vielleicht schlichtweg kindlich ist, von Neugier und Experimentierfreude geprägt, aber zu merkwürdig oder unangepasst für ihre Eltern …
Die Erkenntnisse, die Ronson im Zuge seiner Plaudereien offenbart, sind vielfältig, teilweise schockierend, unterm Strich aber unentschieden und widersprüchlich: Man kann eine Sache also so sehen, aber auch anders … Das liegt natürlich daran, dass die menschliche Psyche nun mal ein unfassbar komplexes Ding ist, das sich jeder Kategorisierung sogleich wieder entwindet. Positivistischen Hoffnungen (»Die moderne Wissenschaft wird eines Tages alle Probleme lösen können.«) macht Ronson jedenfalls deutlich den Garaus.
So weit zu Jon Ronsons recht interessantem und – wenn man den »Gonzo«-Stil mag – unterhaltsamem Buch, dem ich als solchem 3 Sterne geben würde. (Ich bin kein »Gonzo«-Fan.) Die Kernwörter im Originaltitel – »The Psychopath Test – A Journey Through the Madness Industry« – spiegeln den Inhalt treffend: »Der Psychopathen-Test – eine Reise durch die Industrie um das Verrücktsein«.
Was der Tropen-Verlag und sein Übersetzer Martin Jaeggi daraus gemacht haben, hat dem Buch gar nicht gut getan.
Der deutsche Titel »Die Psychopathen sind unter uns: Eine Reise zu den Schaltstellen der Macht« schiebt den eigentlichen inhaltlichen Kern – den Test, die Problematik, was überhaupt ein »Psychopath« ist, und die Kommerzialisierung des Phänomens – beiseite, um ihn durch reißerische Phrasen zu ersetzen: Unsere Gesellschaft sei von Psychopathen durchdrungen, insbesondere »die was zu sagen haben« seien gestörte Persönlichkeiten. Der Gipfel ist der Satz auf dem rückseitigen Cover: »Die meisten Psychopathen sitzen an den Schalthebeln der Macht« – diese Behauptung muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen!
Ein Käufer, der jetzt provokante Kritik an den Mächtigen erwartet, wird enttäuscht werden, denn für Jon Ronson war das nur ein Nebenaspekt. Andererseits wird jemand, der mehr über Psychopathologie und ihre Entwicklung erfahren will, ein Buch mit so einem Titel unbeachtet lassen, obwohl es eigentlich genau das richtige für ihn wäre …
Wer es schließlich gekauft hat, braucht – wenn er denn einigermaßen sprachsensibel ist – eine hohe Toleranzschwelle, um die Lektüre dieses Werks ohne Leiden durchzustehen. (Wenn sprachliche Schwächen Sie bei einem Sachbuch nicht stören, brauchen Sie jetzt nicht weiterzulesen.)
Übersetzer und Lektorat arbeiteten offenbar unter größtem Zeitdruck – jedenfalls lustlos und schlampig. Der Text ist mechanistisch, d.h. Wort für Wort, aus dem Englischen übersetzt, ohne den Versuch, einen dem Original entsprechenden Klang im Deutschen zu finden. Daher ist der Erzählton meist so trocken wie Pappe.
Hat irgend jemand mitgedacht bei Sätzen wie »Wenn deine Gesamtpunktzahl bei 30 oder mehr als 40 möglichen Punkten liegt …«, »Und du dann wirst du irgendwohin gesteckt …«, »Tony Stimme schwoll vor Wut und Frustration an«? Alle drei findet man auf Seite 65; alle Hervorhebungen stammen von mir.
Es gibt keine Seite, auf der nicht mindestens 1 Fehler ins Auge springt; oft ist es ein halbes Dutzend. Da fehlen Silben und ganze Wörter, die Syntax ist zerschossen. Der Konjunktiv I ist unbekannt. Wer immer dafür verantwortlich ist, beachtete weder die Rechtschreibung (»Exesse«, S. 135) noch die satzgliedernde Kommasetzung. Das Apostroph setzt Jaeggi selbst nach englischen Regeln falsch: »Sarahs’ Haus« (S. 138); »in der Steven Nolan Show von BBC Five Live’s« (statt »BBC 5 live«) (S. 193); »Nimm’ die Flasche!« (S. 48, zwei Mal) – im Deutschen gehört es hier nirgendwo hin.
Viele Formulierungen sind nicht bloß holprig, sondern unidiomatisch. »Haben Sie jemals jemanden in einem Kampf auf dem Pausenplatz verletzt?« (S. 100) Warum nicht »… bei einer Schulhofprügelei ein anderes Kind verletzt«? Wie kann ein professioneller Übersetzer »would« für gewohnheitsmäßiges Handeln ignorieren? »In einem typischen Überfall würden die Angreifer in ein Haus eindringen« – hier ist doch keine »Möglichkeit« gemeint, sondern »Bei ihren Überfällen drangen sie normalerweise …« (S. 121, ebs. S. 213). Und »to ask« heißt keineswegs immer nur »fragen«: Statt »Hare wurde angefragt, Nicole Kidman … zu beraten« (S. 135), sagt man auf Deutsch wohl eher »Hare wurde gebeten, …«. Das mag aber ein Helvetismus sein, ebenso wie der »Pausenplatz« oder die konsequente (mehrfache) Behandlung des Femininums »Schwadron« als Maskulinum oder Neutrum: »(An)führer eines Todesschwadrons«.
Abschließend noch einige Perlen, die im Kaufpreis von 19,95 € eingeschlossen sind:
»Das ist nichts, was kommt und geht. Es macht die Person vielmehr aus.« (S. 61)
»Lehre ihnen Empathie, und sie werden …« (S. 91)
»Ich hing ein Inserat ans Anschlagbrett.« (S. 115)
»Und für eine Sekunde schien Rachel erleichtert auszusehen.« (S. 187)
»Ist das nicht einfach eine andere Art zu sagen, dass sie sie gar nie hatten?« (S. 245)
»… dass er nie wieder als leitender Angestellter … eines börsenkotierten Unternehmens arbeiten würde« (S. 145) …