
Zu viel Gestaltung
Wenn ein Mensch geht, was bleibt von ihm? Wie war sein Leben? Was hat sein Leben bestimmt – der Zufall, das Schicksal, eine höhere Macht? Was konnte er selbst lenken, gestalten? Wenn er anders gehandelt, andere Menschen kennengelernt hätte, wäre alles genauso geschehen? Solchen Fragen geht jeder nach. Allgemeingültig beantworten kann sie keiner, auch eine Schriftstellerin nicht.
Was zum Beispiel hat Paul, Juliane, Felix und Max veranlasst, sich im Nachtzug nach Rom in ein und demselben Abteil niederzulassen? Nichts hat die vier jungen Leute bisher verbunden. Dass alle ihrer Vergangenheit entfliehen wollen, ist ein allzu dünnes Band. Juliane hat noch nicht verwunden, dass ihr kleiner Bruder vor ein paar Jahren durch sie zu Tode kam (Zufall? Schuld?). Paul ist frisch geschieden. Felix will in Südtirol den Spuren der Lebensgeschichte seiner Mutter nachgehen. Max verfolgt seinen Traum, sich als Maler zu verwirklichen.
Wenn es denn damals Zufall war, ist es zwei Jahrzehnte später noch einmal der Zufall, der sie erneut zusammenführt? Was immer dahinter steckt, die Konstruktion des Romans »bleiben« ist ein recht gezwungen wirkender Kraftakt seiner Schöpferin, der 1970 in Linz geborenen Autorin Judith W. Taschler.
In vier Strängen lesen wir je einen Dialog, den Felix, Max, Paul oder Juliane führt, und zwar im Mai (Felix), Juni (Paul), September (Max) und Dezember (Juliane) des Jahres 2015. Jede Hauptfigur vertraut darin ihre bisherigen Lebens-, Familien- und Beziehungsgeschichten und ihre aktuelle Situation weit ausholend und detailreich einem Partner an. Diese Gespräche werden aber nicht einfach in vier Kapiteln wiedergegeben, sondern aufgeteilt in acht Runden gleichen Musters: Paul – Juliane – Felix – Max. In der letzten Runde fehlt jedoch Felix' Part, denn er ist zwischenzeitlich seiner tödlichen Krankheit erlegen.
Eine weitere Komplizierung tritt durch Taschlers Entschluss ein, konsequent nur den Dialoganteil des jeweiligen Protagonisten wiederzugeben und den seines Partners komplett auszublenden. De facto lesen wir also vier Monologe (oder auch Ich-Erzählungen). Dass es sich überhaupt um Dialogsituationen handelt, erschließt sich allein dadurch, dass die Sprecher ihre Zuhörer häufig direkt anreden, »noch ein Bier« vorschlagen oder ihre Fragen aufgreifen. (Letzteres klingt nach meinem Geschmack oft schrecklich unnatürlich: »... Seine Hand war unter meiner Bluse, meine Zunge in seinem Mund. Wie es war beim ersten Mal? Als er mir die Bluse ausziehen wollte, blieb ...«)
Die eigenwillige Zerstückelung der Struktur und die Beschneidung der Perspektive haben ihren Preis. Man ist ja beim Lesen mit mehreren Denkaufgaben beschäftigt: Was für Charaktere sind die vier Erzähler, welche Probleme und Sorgen bewegen sie, wie sind ihre Lebenswege miteinander verknüpft? Hinzu kommt jetzt: Mit wem plaudern sie da, wo, aus welchem Anlass und warum gerade mit dieser Person? Stellt sich am Ende womöglich überraschend heraus, dass es nicht nur um ein Quartett, sondern, erweitert um die Gesprächspartner, um ein Beziehungsoktett geht? Das Rätseln ist überflüssig – die stillen Zuhörer fungieren einfach nur als Mikrofone, die angestrengte formale Konstruktion fügt der Aussage nichts Substanzielles hinzu.
Was wird erzählt? Juliane ist mittlerweile mit Paul verheiratet. Der Tradition seiner gesellschaftlich herausragenden Herkunft folgend, arbeitet er als Anwalt in der Wiener Kanzlei der Familie. Juliane ist in ihrer glücklichen Ehe und dem Familienleben mit zwei Kindern aufgegangen. Dafür hat sie ihre musikalische Leidenschaft als Cellistin nie verwirklichen können.
Durch einen Zufall begegnet Juliane in einer Galerie den Jugendbekanntschaften Max (inzwischen arrivierter Maler) und Felix (Werbefotograf) wieder. Zwischen Juliane und Felix entbrennt eine stürmische Affäre. Als Felix sich abrupt zurückzieht, glaubt Juliane, er habe sie lediglich benutzt. Den wahren Grund für sein Verhalten erfährt sie ausgerechnet von Paul, ihrem Mann.
Felix ist an Krebs erkrankt. Er weiß, dass er bald sterben wird. Und er erfährt auch, was seine Krankheit ausgelöst hat. Dahinter verbirgt sich eine Kette von schuldhaftem Verhalten, moralischem Versagen, Schicksalhaftigkeit – oder blinden Zufällen? –, die sich streckenweise lesen wie ein unglaublicher Krimi.
In den einunddreißig Gesprächskapiteln dieses ungewöhnlichen, vielschichtigen Romans geht es um Freundschaft, Loyalität, Liebe, Familie, Heimat und Zugehörigkeit als (stets gefährdete) Fundamente der menschlichen Existenz. Mit Felix' Schicksal stellen sich die großen Fragen um die letzte Lebensphase eines Todkranken: Wie begleitet man einen Sterbenden, wie »bleibt« man bei ihm, wie lässt man los?
Schade, dass dieses Buch thematisch und strukturell so artifiziell ist.