
Weihnachten am Himmel und auf Erden
Das schmalste Weihnachtsbüchlein aus dem Diogenes-Verlag vereint vier Geschichten eines amerikanischen Autors, der vor allem durch sein wegweisendes Science-Fiction-Werk weltberühmt wurde. Dass er auf einem wesentlich breiteren Spektrum schriftstellerisch tätig war, dürfte vielen nicht geläufig sein. Gerade seine Weihnachtserzählungen sind alles andere als abgedroschen. Auch wer Ray Bradbury schon kennt, wird überrascht sein von der Poesie und erzählerischen Kraft der hier versammelten Texte, die drei verschiedenen Genres zuzurechnen sind.
Die erste und kürzeste Geschichte (»Das Weihnachtsgeschenk«) ist die einzige mit Science-Fiction-Szenario, jedoch nur insofern, als sie von einem Flug zum Mars zu Weihnachten 2052 erzählt. Ein Ehepaar mit seinem kleinen Sohn ist unter den Passagieren. Leider sind die Gepäckvorschriften in der Zukunft noch restriktiver als die unserer heutigen Billigflieger. Aber der Sinn dafür, was Weihnachten ausmacht, ist erfreulicherweise noch vorhanden.
Die zweite Erzählung (»Der Wunsch«) hat geradezu mystischen Charakter. Denn was sich der Ich-Erzähler auf der Suche nach seinem Seelenfrieden in der eisigen Weihnachtsnacht wünscht, ist eine Ungeheuerlichkeit, die weit über die Begrenztheit der menschlichen Existenz hinausgreift. Auch »Segne mich, Vater, denn ich habe gesündigt«, die dritte Geschichte, handelt von Schuld und Vergebung und nutzt Motive, die naturwissenschaftlich-faktisch nicht so einfach zu erklären sind.
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»Der Bettler auf der O'Connell-Brücke«, die letzte und längste Erzählung, schlägt hingegen in Ton und Thema andere Saiten an. Der Ich-Erzähler und seine Frau verbringen Weihnachten in Dublin. Dort fällt ihnen auf, wie viele Bettler die Straßen bevölkern und auf welch unterschiedliche Weisen es ihnen gelingt, den Passanten einen Obolus zu entlocken. Schwankend zwischen Misstrauen und Mitleid, Verständnis und Verärgerung, Nachsicht und Nächstenliebe suchen die beiden Touristen halb scherzend, halb ernsthaft ihren Weg durch das Fest der Liebe, des Schenkens, des Teilens, des Gebens.
Außer zum eigenen Schmökern (für ein gutes Stündchen) eignen sich die siebzig Seiten gut zum Vorlesen und als kleines vorweihnachtliches Mitbringsel. Wofür es sich weniger eignet, ist als Appetitanreger für das Gesamtwerk des 2012 verstorbenen, ungeheuer produktiven, vielseitigen und kreativen Schriftstellers mit gesellschaftskritischem Engagement. Seinen Weltruhm begründeten seit den Fünfzigerjahren Science-Fiction-Romane (»Die Mars-Chroniken« , »Fahrenheit 451«) und -Erzählungen, die dieses Genre maßgeblich geprägt haben. Daneben hat Bradbury Kurzgeschichten zu anderen Themen (darunter Weihnachten), Kinderbücher, Gedichte und Drehbücher verfasst.
Alle vier Texte hatte der Diogenes-Verlag bereits in den Achtziger- und Neunzigerjahren in vier Short-Story-Sammlungen des Autors veröffentlicht, und auch die kleine Ausgabe selber gab es schon 2008 erstmals. Es handelt sich also um ein geschicktes Recycling von Vorhandenem unter einem gemeinsamen Thema.