Rezension zu »Terminal« von Kai Hensel

Terminal

von


Das absurde Theater um den Haupstadtflughafen als Thriller erzählt
Politthriller · Unionsverlag · · 288 S. · ISBN 9783293005662
Sprache: de · Herkunft: de

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Willkommen in der Bananenrepublik

Rezension vom 31.05.2021 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Muss man über BER einen Roman schreiben? Bedarf es einer Fiktion über unseren ›Hauptstadt­flughafen‹? Ist die Realität dieses Projekts nicht derart skandalös, absurd, lachhaft und traurig, dass sie fiktional gar nicht zu toppen und kaum zu erfinden wäre? Die Feder­füh­renden insbe­sondere aus der Politik haben in die Welt hinaus­posaunt, was für eine sensatio­nelle Leistung sie da voll­bringen werden – de facto wurde daraus ein Desaster, eine beschä­mende Mixtur aus Dreistig­keit, Inkom­petenz, Korrup­tion und himmel­schrei­enden Torheiten, eine gigan­tische Pleite, materiell und imma­teriell, eine einzige Peinlich­keit für unser Land. Eigent­lich sollten die Verant­wort­lichen in Sack und Asche abtreten, doch das ist heutzu­tage wohl keine Option mehr.

Kai Hensel hat sich dieses Leckerbissens für investi­gativen Journa­lismus ange­nommen und eine Art Schlüssel­roman daraus gemacht. Er hat die Vorgänge und Fakten intensiv recher­chiert, ein paar Motiv- und Handlungs­stränge zugunsten der Spannungs­erzeugung hinzu­gefügt, Namen der realen Akteure verändert und Kalender­daten nach seinen Bedürf­nissen geändert, so dass ein span­nender Polit­krimi in Reportage­manier entstand.

Natürlich ist die Geschichte des wohl größten Bau­skandals der Nach­kriegs­geschichte alles andere als lustig. Über dreißig Jahre hin wurden Millliar­den an Steuer­geldern versenkt, ohne die ange­strebten Ziele zu erreichen. Obwohl in den Medien durchaus detail­liert berichtet und kommen­tiert, sind viele Sachver­halte über die Jahre längst dem mensch­lichen Vergessen anheim­gefallen. Die Bürger waren der Dauer­skandale über­drüssig, haben sie verdrängt, weil die Zahlen so immens sind, dass sie das durch­schnitt­liche Vorstellungs­vermögen über­steigen, weil sie ja ohnehin »nichts dran ändern können«, weil sie als Steuer­zahler sowieso für alles gerade­stehen müssen, was »die da oben« verbocken.

Bereits die Entscheidung über den Standort des Flug­hafens »BER« als Haupt­stadt- und Regierungs­airport im wieder­vereinig­ten Deutsch­land war eine »Ur- und Erbsünde«, die ein juristi­sches Chaos auslöste. Nach Auswahl­verfah­ren und Gutachten in den Neun­ziger­jahren kristalli­sierte sich Speren­berg als Favorit der Experten heraus, ein großer ehemals russi­scher Militär­flugplatz in dünn besie­delter Land­schaft etwa vierzig Kilometer südlich der Stadt. Doch der Regie­rende Bürger­meister und die Parteien der Großen Koalition bevor­zugten den proble­matischs­ten der Standorte, den Flughafen Schöne­feld innerhalb der Stadt­grenzen, und forderten außerdem die Schlie­ßung der beiden traditions­reichen Airports Tempelhof und Tegel. Die Fertig­stellung wurde für 2007 geplant. Sogleich gingen Grund­stücks­geschäfte im Wert von Hunderten von Millionen Euro über diverse Tische. Bis heute sind diese mit Steuer­geldern über­teuert ange­kauften Flächen ungenutzt.

Die Romanhandlung setzt am 20. Juli 2005 ein, als sich die Polit­prominenz beim leicht verspä­teten ersten Spaten­stich für den visio­nären Bau feiert und feiern lässt. Nur fünf Jahre später (also 2010) wollen sie zu dessen Eröffnung wieder auf der Ehren­tribüne Platz nehmen und zu den Klängen der Berliner Philhar­moniker die Glück­wünsche und Lobes­hymnen von Gästen aus aller Welt ent­gegen­nehmen. Das bleibt ein schöner Traum.

2012 verschiebt der Aufsichtsrat die Eröff­nung auf den 27. Oktober 2013. Tatsäch­lich sorgten im September 2012 zahl­reiche Mängel u.a. beim Brand­schutz für öffent­liche Aufregung. Gleich am Anfang des Romans dürfen wir die Zustände aus der Perspek­tive einer Diplom-Inge­nieurin namens Gesine live miterleben. Sie ist im November über eine (viel zu kurze) Roll­treppe auf dem Weg zur Abflug­ebene. Unterwegs überfallen sie Atemnot und Magen­schmerzen, so dass sie sich bald benommen auf dem Gepäck­band wiederfindet. Endlich trifft sie in der Lounge auf ihre Kollegen, die inmitten von Skizzen und Papierstapeln in bester Bierlaune bei­sammen­sitzen. Gesine hatte zuvor einen Wett­bewerb initiiert, wer von ihnen den »lus­tigsten Mangel« aufdeckt (etwa »Licht­schalter hinter den Boden­leisten!«), und war nun selbst in die Einge­weide des Flug­hafens hinunter­getaucht. Was sie dort entdeckt hat, bleibt erst einmal ein großes Frage­zeichen.

Im Frühjahr 2013 wird die vollständige Liste von exakt 106.132 teilweise unfass­baren Mängeln veröffent­licht, darunter »Rohre, durch die Wasser nach oben fließen sollte, Heiz­körper, die in den Lüftungs­schächten montiert waren«, Roll­treppen, die ins Nichts führen, »Sprinkler­köpfe, aus denen kein Wasser, sondern Heißluft strömte«. (Der Rezen­sentin klingen die Worte einer Freundin im Ohr, die ihr bei einem Besuch in der Haupt­stadt immer wieder stolz zuraunte: »Det is Balin!«)

Wie die Hauptstadt ist auch der Roman dicht und bunt bevölkert. Die jüngste Akteurin ist Jana Stahnke, 19, aus Gelsen­kirchen. Sie träumt davon, einmal die Motorrad-Rallye Dakar zu gewinnen, und hofft, als Pizza­botin in Berlin das Geld dafür zu verdienen. Was sie erlebt, über­trifft all ihre Träume, auch wenn es keine Rallyes sind. Wir lernen feine Herren von Macht und Einfluss kennen wie den Bürger­meister Pankelow und den zwei Jahr­zehnte älteren Staats­sekretär Günter Treskeit, der schon bei der Standort­suche 1990 mitge­mischt hat. Da verschwan­den nicht nur 500 Millionen D-Mark in dunklen Kanälen, sondern auch Akten in Treskeits Minis­terium. Schade, da konnte der spätere Unter­suchungs­ausschuss natürlich nichts Konkretes mehr unter­suchen, und Treskeit wurde als »Mann der reinen Weste« in den Ruhestand versetzt. Viele Jahre später sitzen Treskeit und Pankelow bei einem edlen Tropfen zusammen und lassen die guten alten Zeiten des gemein­samen Schei­terns Revue passieren. Pankelow hat seine rechte Hand, den jungen Informatik­studenten Sam Yun, 24, dabei und will nach der Wahrheit hinter den ver­schwun­denen Ordnern suchen. Schlimmer als den dreien ergeht es einem kritischen Journa­listen, der heimlich in den Flughafen klettert und darin seinen Lebens­raum und Lebens­inhalt findet. Er verbringt Tage und Nächte damit, sämtliche Mängel in Skizzen und Plänen festzu­halten. Doch niemand will seine Erkennt­nisse ver­öffent­lichen. So endet er als obdach­loser Prepper, der sich auf eine unaus­weich­liche apokalyp­tische Zukunft vorbe­reitet. Er ist nur ein Beispiel für die vielen Charak­tere, die an der Thematik scheitern, die an ihr verzwei­feln, die nicht gehört werden sollen, die sich radikali­sieren, die irrwit­zigen Gedanken­spielen für eine andere Zukunft nach­hängen.

Zur Wahrheitsfindung um den chaotischen Terminalbau kann Kai Hensels Roman natürlich kaum beitragen. Zu komplex sind die Vorgänge vor und hinter den Kulissen, das Netz der Ver­antwor­tungen, die Verket­tungen haar­sträu­bender Fehl­entschei­dungen. Dem trägt der Autor Rechnung, indem er seine Recherche­ergeb­nisse und seine Plot­fiktion mit gebüh­rendem Spott, bitterer Ironie und blankem Sarkasmus würzt. So finden Sam Yun und seine Lands­leute in der »Haupt­stadt-Schande« ihr »Mysterium«. Uner­müdlich sitzen sie vor ihren Monitoren, um etwas Groß­artiges zu erschaf­fen. Ihr visio­näres Startup soll, wie kann es anders sein, all die vermeint­lich Großen alt aussehen lassen. Was sind schon Google, Apple und SpaceX gegen Berlin?

Was keiner mehr glauben mochte, tritt am 31. Oktober 2020 ein: BER wird eröffnet, ein potem­kinsches Dorf und die größte Blamage »deutscher Wert­arbeit«. Der Bürger­meister hält eine zukunfts­weisende Rede, die die Begeis­terung der geladenen Gäste ins Uferlose steigert und die Augen der Inves­toren gülden erglänzen lässt. Die inhalt­lichen Details seien hier nicht gespoi­lert, denn es folgt zum Abschluss eine höchst amüsante, zynische Volte, die ihres­gleichen sucht.

So wahnwitzig überdreht und schier nicht nach­vollzieh­bar wie das Berliner Monster­projekt mutet auch Hensels über­frach­teter Roman an. Gut dran ist, wer die Entwick­lung in der Realität ein wenig mitver­folgt hatte. Dann findet man leichteren Zugang zu der unterhalt­samen Bearbei­tung des Lug-und-Trug-Flughafen­baus.


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