
Terminal
von Kai Hensel
Das absurde Theater um den Haupstadtflughafen als Thriller erzählt
Willkommen in der Bananenrepublik
Muss man über BER einen Roman schreiben? Bedarf es einer Fiktion über unseren ›Hauptstadtflughafen‹? Ist die Realität dieses Projekts nicht derart skandalös, absurd, lachhaft und traurig, dass sie fiktional gar nicht zu toppen und kaum zu erfinden wäre? Die Federführenden insbesondere aus der Politik haben in die Welt hinausposaunt, was für eine sensationelle Leistung sie da vollbringen werden – de facto wurde daraus ein Desaster, eine beschämende Mixtur aus Dreistigkeit, Inkompetenz, Korruption und himmelschreienden Torheiten, eine gigantische Pleite, materiell und immateriell, eine einzige Peinlichkeit für unser Land. Eigentlich sollten die Verantwortlichen in Sack und Asche abtreten, doch das ist heutzutage wohl keine Option mehr.
Kai Hensel hat sich dieses Leckerbissens für investigativen Journalismus angenommen und eine Art Schlüsselroman daraus gemacht. Er hat die Vorgänge und Fakten intensiv recherchiert, ein paar Motiv- und Handlungsstränge zugunsten der Spannungserzeugung hinzugefügt, Namen der realen Akteure verändert und Kalenderdaten nach seinen Bedürfnissen geändert, so dass ein spannender Politkrimi in Reportagemanier entstand.
Natürlich ist die Geschichte des wohl größten Bauskandals der Nachkriegsgeschichte alles andere als lustig. Über dreißig Jahre hin wurden Millliarden an Steuergeldern versenkt, ohne die angestrebten Ziele zu erreichen. Obwohl in den Medien durchaus detailliert berichtet und kommentiert, sind viele Sachverhalte über die Jahre längst dem menschlichen Vergessen anheimgefallen. Die Bürger waren der Dauerskandale überdrüssig, haben sie verdrängt, weil die Zahlen so immens sind, dass sie das durchschnittliche Vorstellungsvermögen übersteigen, weil sie ja ohnehin »nichts dran ändern können«, weil sie als Steuerzahler sowieso für alles geradestehen müssen, was »die da oben« verbocken.
Bereits die Entscheidung über den Standort des Flughafens »BER« als Hauptstadt- und Regierungsairport im wiedervereinigten Deutschland war eine »Ur- und Erbsünde«, die ein juristisches Chaos auslöste. Nach Auswahlverfahren und Gutachten in den Neunzigerjahren kristallisierte sich Sperenberg als Favorit der Experten heraus, ein großer ehemals russischer Militärflugplatz in dünn besiedelter Landschaft etwa vierzig Kilometer südlich der Stadt. Doch der Regierende Bürgermeister und die Parteien der Großen Koalition bevorzugten den problematischsten der Standorte, den Flughafen Schönefeld innerhalb der Stadtgrenzen, und forderten außerdem die Schließung der beiden traditionsreichen Airports Tempelhof und Tegel. Die Fertigstellung wurde für 2007 geplant. Sogleich gingen Grundstücksgeschäfte im Wert von Hunderten von Millionen Euro über diverse Tische. Bis heute sind diese mit Steuergeldern überteuert angekauften Flächen ungenutzt.
Die Romanhandlung setzt am 20. Juli 2005 ein, als sich die Politprominenz beim leicht verspäteten ersten Spatenstich für den visionären Bau feiert und feiern lässt. Nur fünf Jahre später (also 2010) wollen sie zu dessen Eröffnung wieder auf der Ehrentribüne Platz nehmen und zu den Klängen der Berliner Philharmoniker die Glückwünsche und Lobeshymnen von Gästen aus aller Welt entgegennehmen. Das bleibt ein schöner Traum.
2012 verschiebt der Aufsichtsrat die Eröffnung auf den 27. Oktober 2013. Tatsächlich sorgten im September 2012 zahlreiche Mängel u.a. beim Brandschutz für öffentliche Aufregung. Gleich am Anfang des Romans dürfen wir die Zustände aus der Perspektive einer Diplom-Ingenieurin namens Gesine live miterleben. Sie ist im November über eine (viel zu kurze) Rolltreppe auf dem Weg zur Abflugebene. Unterwegs überfallen sie Atemnot und Magenschmerzen, so dass sie sich bald benommen auf dem Gepäckband wiederfindet. Endlich trifft sie in der Lounge auf ihre Kollegen, die inmitten von Skizzen und Papierstapeln in bester Bierlaune beisammensitzen. Gesine hatte zuvor einen Wettbewerb initiiert, wer von ihnen den »lustigsten Mangel« aufdeckt (etwa »Lichtschalter hinter den Bodenleisten!«), und war nun selbst in die Eingeweide des Flughafens hinuntergetaucht. Was sie dort entdeckt hat, bleibt erst einmal ein großes Fragezeichen.
Im Frühjahr 2013 wird die vollständige Liste von exakt 106.132 teilweise unfassbaren Mängeln veröffentlicht, darunter »Rohre, durch die Wasser nach oben fließen sollte, Heizkörper, die in den Lüftungsschächten montiert waren«, Rolltreppen, die ins Nichts führen, »Sprinklerköpfe, aus denen kein Wasser, sondern Heißluft strömte«. (Der Rezensentin klingen die Worte einer Freundin im Ohr, die ihr bei einem Besuch in der Hauptstadt immer wieder stolz zuraunte: »Det is Balin!«)
Wie die Hauptstadt ist auch der Roman dicht und bunt bevölkert. Die jüngste Akteurin ist Jana Stahnke, 19, aus Gelsenkirchen. Sie träumt davon, einmal die Motorrad-Rallye Dakar zu gewinnen, und hofft, als Pizzabotin in Berlin das Geld dafür zu verdienen. Was sie erlebt, übertrifft all ihre Träume, auch wenn es keine Rallyes sind. Wir lernen feine Herren von Macht und Einfluss kennen wie den Bürgermeister Pankelow und den zwei Jahrzehnte älteren Staatssekretär Günter Treskeit, der schon bei der Standortsuche 1990 mitgemischt hat. Da verschwanden nicht nur 500 Millionen D-Mark in dunklen Kanälen, sondern auch Akten in Treskeits Ministerium. Schade, da konnte der spätere Untersuchungsausschuss natürlich nichts Konkretes mehr untersuchen, und Treskeit wurde als »Mann der reinen Weste« in den Ruhestand versetzt. Viele Jahre später sitzen Treskeit und Pankelow bei einem edlen Tropfen zusammen und lassen die guten alten Zeiten des gemeinsamen Scheiterns Revue passieren. Pankelow hat seine rechte Hand, den jungen Informatikstudenten Sam Yun, 24, dabei und will nach der Wahrheit hinter den verschwundenen Ordnern suchen. Schlimmer als den dreien ergeht es einem kritischen Journalisten, der heimlich in den Flughafen klettert und darin seinen Lebensraum und Lebensinhalt findet. Er verbringt Tage und Nächte damit, sämtliche Mängel in Skizzen und Plänen festzuhalten. Doch niemand will seine Erkenntnisse veröffentlichen. So endet er als obdachloser Prepper, der sich auf eine unausweichliche apokalyptische Zukunft vorbereitet. Er ist nur ein Beispiel für die vielen Charaktere, die an der Thematik scheitern, die an ihr verzweifeln, die nicht gehört werden sollen, die sich radikalisieren, die irrwitzigen Gedankenspielen für eine andere Zukunft nachhängen.
Zur Wahrheitsfindung um den chaotischen Terminalbau kann Kai Hensels Roman natürlich kaum beitragen. Zu komplex sind die Vorgänge vor und hinter den Kulissen, das Netz der Verantwortungen, die Verkettungen haarsträubender Fehlentscheidungen. Dem trägt der Autor Rechnung, indem er seine Rechercheergebnisse und seine Plotfiktion mit gebührendem Spott, bitterer Ironie und blankem Sarkasmus würzt. So finden Sam Yun und seine Landsleute in der »Hauptstadt-Schande« ihr »Mysterium«. Unermüdlich sitzen sie vor ihren Monitoren, um etwas Großartiges zu erschaffen. Ihr visionäres Startup soll, wie kann es anders sein, all die vermeintlich Großen alt aussehen lassen. Was sind schon Google, Apple und SpaceX gegen Berlin?
Was keiner mehr glauben mochte, tritt am 31. Oktober 2020 ein: BER wird eröffnet, ein potemkinsches Dorf und die größte Blamage »deutscher Wertarbeit«. Der Bürgermeister hält eine zukunftsweisende Rede, die die Begeisterung der geladenen Gäste ins Uferlose steigert und die Augen der Investoren gülden erglänzen lässt. Die inhaltlichen Details seien hier nicht gespoilert, denn es folgt zum Abschluss eine höchst amüsante, zynische Volte, die ihresgleichen sucht.
So wahnwitzig überdreht und schier nicht nachvollziehbar wie das Berliner Monsterprojekt mutet auch Hensels überfrachteter Roman an. Gut dran ist, wer die Entwicklung in der Realität ein wenig mitverfolgt hatte. Dann findet man leichteren Zugang zu der unterhaltsamen Bearbeitung des Lug-und-Trug-Flughafenbaus.