Bergsalz
von Karin Kalisa
All die alleinstehenden älteren Frauen in einem südwestdeutschen Dorf entdecken, wie viel besser ihre Welt wird, wenn sie sich zusammentun, teilen, helfen.
Zuviel Zucker in der Suppe
Großartig, wie subtil, poetisch und einfühlsam uns die Autorin sofort einfängt. »Dieser Wind, den man sieht, bevor man ihn spürt. [ … ] Man sieht, was er zu sehen gibt. Berge zum Beispiel. Die gezackte Linie ihrer Gipfel scharf umrissen [ … ] Und doch sind sie nicht so – nicht so nah. Er spiegelt sie vor. Wirft die Welt auf sich zurück; in pure Form und Gestalt.« So geht es noch ein paar Absätze weiter über den rätselhaften Föhn im Voralpenland, die Schneefelder, die Leere, das Nichts, Trugbilder, Herzrasen, hinein in ein einfaches Haus zu seiner Bewohnerin, der alten Franziska Heberle, »die Luftbewegung für ein Lebenselixier hält«, die es mag, »wenn Dinge klar sind«, und die beim Kochen gründlich abwägt, welche Kräuter sie aus dem Garten oder dem Schrank holen soll. Das ist sehr schön, sehr plastisch, sehr gemütlich, und in diesem Stil geht es weiter. »Wie lange kann das gut gehen?«, beginnt man zu fürchten.
Franzis Tage sind seit Jahren gut strukturiert, so wie sich das in ihrem Alter und auf dem Lande wohl unausweichlich ergibt. Kontinuität und Konventionen gerinnen zum Zwang, und jede Abweichung von den unausgesprochenen Verhaltensregeln beunruhigt, wird als Störung empfunden. So ist auch Franzi etwas verärgert, als es zur allgemeinen Essenszubereitungszeit an ihrer Tür klopft. Wie man ein unerwünschtes Handyklingeln ›wegdrückt‹, ignoriert sie das Geräusch. Es wird ohnehin bloß der lästige Apfelbauer vom Bodensee sein, dessen überzüchtete Früchte ihren eigenen nicht das Wasser reichen können. Doch nein, an der Tür steht »die Johanna« von nebenan und fragt: »Hast a bitzle Mehl?«
Das soll der winzige Auslöser für etwas Großes sein, den Einzug des Guten und Vernünftigen ins Dorf und ins Gemüt seiner Bewohner*innen, wie uns die Autorin nun im weiteren Fortgang erzählt – immer noch in ihrem schönen Stil.
Denn Franzi ist sensibel. Sie spürt gleich, dass die Frage nach dem Mehl eigentlich ein seelischer Hilferuf ist, und lädt sie spontan zum Mittagessen ein. Die kleine gute Tat knüpft ein Band zwischen den beiden Frauen, die bisher nebeneinander her lebten, allein und isoliert in ihren Häusern samt gut bestückten Vorratskellern. Und weil gute Beispiele bekanntlich Wellen schlagen und Nachahmung finden, gibt es bald Gegeneinladungen, und der Kreis der Frauen, die nun zueinander finden, vergrößert sich. So weit, dass beim neu erlebten »Miteinanderzusammen« der unterschiedlichen Frauen, die alle im Leben ihr Päckchen zu tragen hatten, nur Friede, Freude, Eierkuchen herrscht, gehen Liebe, Naivität und Wunschdenken denn doch nicht. Aber trotz eines bissigen Tones hier, eines verbalen Giftspritzers dort raufen sich die Frauen zusammen, und unter der Führung von drei besonders durchsetzungsfähigen unter ihnen entsteht die tolle Idee, ein seit Jahren vor sich hin gammelndes Gasthaus wieder herzurichten. Zurzeit sind in dem Gebäude Migranten untergebracht, was der Erbengemeinschaft ein kleines Einkommen verschafft, aber um Geld geht es natürlich nicht. Wenn man gemeinsam die alte Küche in Ordnung bringt, kann man für jeden Dorfbewohner, die Geflüchteten eingeschlossen, einen Mittagstisch anbieten. Der Fund eines großen Gefäßes voller »Bergsalz«, ein wenig mystisch verklärt, gibt dem Plan Auftrieb und der Erzählung den Titel. Immer noch ist alles schön.
Dann entwickelt die Gutherzigkeit eine Eigendynamik. Die Devise im Dorf scheint jetzt »Wachstum«. Die »offene Küche« zieht neue Initiativen nach sich, einen Dorfladen, eine Apotheke und weitere Gemeinschaftsprojekte. Damit betreten jede Menge neue Figuren die Bühne, und ihre mannigfachen Schicksale erweitern und verwässern den überschaubar komplexen Plot. Es sind Ehefrauen, die von ihren Männern verlassen wurden, Menschen mit bewegenden Migrationserlebnissen und Einheimische, die traumatisiert aus Kriegsgebieten zurückgekehrt sind.
Für eine Überhöhung der Dorfentwicklung sorgen eine mystische, eine religiöse und eine historische Komponente. Die Sage von den »Säligen Fräulein« verknüpft die Taten von Franzi, Johanna und Esme irgendwie mit uralten Geschichten von »weißen und weisen Frauen« aus grauer Vorzeit, so wie das Salz ewige Werte repräsentiert (»Anders als Chips oder Pralinen jedenfalls war Salz unendlich lange haltbar.«). Am Ende steigt Franzi gar zum Himmel auf und sinniert und räsonniert mit »Maria Schnee« und »Anna Wald« über ihren Verlust des Glaubens und der Hoffnung – und die da oben reden im Übrigen genau so putzig wie »die Franzi« und alle anderen hier unten, die den Vornamen den Artikel voranstellen, außer wenn sie gewichtige Sachen sagen wie »wie ungerecht es ist, erst Welt zu geben und dann Welt zu stehlen«, oder gar: »Entscheidet das nicht zuletzt: Er?«
Schließlich ruft die Autorin noch die Bundschuh-Bewegung auf, eine Reihe von lokalen Bauernaufständen um 1500 in Südwestdeutschland. Zwar wurden alle rasch niedergeschlagen, aber vielleicht gerade deshalb strahlten sie über die darauf folgenden Bauernkriege hinaus bis zu den Nationalsozialisten und zu den Achtundsechzigern eine gewisse verklärende Aura vorbildlichen Widerstandsheldentums aus. Einige Episoden aus jener Zeit, durch ein Glossar verständlicher gemacht, werfen ein paar Schlaglichter auf eine Epoche, in der die meisten Menschen trotz härtester Arbeit ihr kurzes Leben lang nichts anderes kannten als bittere Not und hilfloses Ausgeliefertsein an die Willkür ihrer Herren und der Natur. Ein eingeritztes uraltes Bundschuh-Symbol im Haus soll nun wohl von Seelenverwandtschaft der gefühligen und wohlgefälligen Genossinnen von heute mit den verzweifelten Kämpfern von damals raunen. Mir graust’s bei solcher Klitterei.
Angetrieben von dem durchsichtigen pädagogischen Ziel, die Leser*innen zu sozialem Miteinander in der Praxis anzuhalten und so nebenbei auch gut gemeinte, aber triviale Statements ohne Wert (»wieviel Erde braucht der Mensch?«) zu globalen Problemen (Klimawandel, Migrationsproblematik) abzugeben, vergaloppiert sich die Autorin. Am Ende ist es uns wohlig ums Herz, und alles ist schön.