Rezension zu »Der Bruch« von Doug Johnstone

Der Bruch

von


Spannend erzählte Geschichte aus dem Leben eines Siebzehnjährigen, der in einer dysfunktionalen Familie in einem desolaten Edinburgher Brennpunkt aufwächst. Seine Handlungsoptionen sind ebenso begrenzt wie seine Chancen für die Zukunft.
Kriminalroman · Polar · · 230 S. · ISBN 9783948392208
Sprache: de · Herkunft: gb

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Zum Scheitern verurteilt?

Rezension vom 20.03.2021 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Der junge Tyler Wallace fällt komplett aus dem Rahmen. Auf Greendyke, wo der Siebzehn­jährige wohnt, passt »jedes Klischee von sozialer Verwahr­losung«. Zwei hässliche, herunter­gekom­mene Hoch­häuser sind inmitten einer unan­sehn­lichen Einöde aus illegal zuge­mülltem Brachland noch verblie­ben, nachdem schon einige der Beton­silos abge­rissen wurden, um einer riesigen Baustelle zu weichen. Vor den Toren Edin­burghs soll hier »Green­acres« entstehen, ein Areal mit Wohnungen und Ein­familien­häusern für Familien, die sich so etwas leisten können. Aus Greendyke werden keine darunter sein.

Die Familie Wallace ist in diesem sozialen Brennpunkt mit fünf Personen in zwei Haus­halten präsent. Tylers Mutter Angela verbringt die meiste Zeit im Bett, zuge­dröhnt mit Heroin und Wodka. Da sie nicht einmal in der Lage ist, sich um sich selbst zu kümmern, beherrscht der pene­trante Gestank ihrer körper­lichen Hinter­lassen­schaften die Wohnung. Gegenüber hausen ihre beiden ältesten Kinder Barry und Kelly in einem inzes­tuösen Verhält­nis. Während Kotz­brocken Barry seine Schwester unver­blümt als »blöd wie Scheiße in ‘ner Flasche« bezeich­net, hält er sich selbst für unwider­stehlich und unbe­siegbar. Mit zwei aggres­siven Kampf­hunden, die durch die Wohnung fauchen, verleiht er seinem absurd fehlge­leiteten Selbst­bild Nachdruck.

Ganz anders Tyler, der Halbbruder der beiden hirn- und herzlosen Psycho­pathen. Er führt nicht nur den Haushalt, sondern pflegt und versorgt auch seine Mutter, selbst in deren erbärm­lichsten und bedroh­lichsten Momenten. Sein Haupt­augen­merk aber gilt seiner sieben­jährigen Schwester Bethany, die er liebevoll Bean nennt. Ihr möchte er nicht nur die Chance eröffnen, mit einem guten Schul­abschluss ein besseres Leben aufzu­bauen, sondern will ihr auch stets mit reinem Gewissen ins Gesicht schauen können. So bringt er sie zur Schule, schirmt das Elend der Mutter, so gut es geht, vor ihr ab und setzt ihm ein optimis­tischeres Weltbild entgegen. In den Gute-Nacht-Geschich­ten, die er ihr erzählt, besiegt Super­heldin »Bean Girl« das Böse der Welt.

Obwohl Tyler in seinem Inneren »ein Guter« ist (und dem Leser bis zum Schluss unver­gessen ans Herz wächst), kann er sich den Zwängen seiner Familie nicht entziehen. Ob er will oder nicht, muss er an den dilettan­tischen Raubzügen seiner Geschwis­ter mitwirken. Während die mit der verticker­ten Beute ihre Süchte bedienen, muss für ihn wenigs­tens soviel raus­springen, dass es zum Überleben reicht.

Die Wallace-Gang geht bei ihrer Freizeitgestaltung unbe­kümmert spontan vor. Angeturnt mit Koks, hält das krimi­nelle ältere Pärchen die Augen auf, wo sich eine gute Einbruchs­gelegen­heit bieten könnte. Für das Urteil »gut« genügt wenig: Ein Haus steht alleine, sieht unbewohnt aus, hat wohl keine Alarm­anlage. Schon kommt Tylers Stärke zum Einsatz: Er ist klein. So kann er durch ein halb­offenes Fenster oder eine einge­schlagene Scheibe in das Objekt ein­steigen und den beiden anderen eine Tür öffnen. Dann rafft man zusammen, was in Kissen­bezügen einge­sackt werden kann.

Wo so grob gehobelt wird, bleiben böse Scharten nicht aus. Eines Tages wählen die Wallaces ausge­rechnet die Villa eines gefürch­teten Mafiosos aus, ohne zu ahnen, mit wem sie sich da anlegen. Dem Initial­fehler lassen sie einen zweiten folgen, als sie wider Erwarten auf die Haus­herrin treffen. Da Barry nur brachiale Lösungs­wege einfallen, geht er mit seinem Messer auf die Dame los und verletzt sie schwer. Wir können uns aus­rechnen, dass der »Bruch« und die Bluttat drama­tische Folgen haben werden.

Dank der Erzähltechnik des Autors sind wir dem Protagonisten und seiner psychi­schen Zwick­mühle ganz nah. Denn der Junge ist in seinem Wesen kein Krimi­neller, sondern gutmütig, ehrlich, mit­fühlend. Weil ihm daran liegt, die verletzt zurückge­lassene Frau zu retten, infor­miert er anonym das Kranken­haus, erkundigt sich später, wie es der Patientin geht, und wagt es sogar, sich bis an ihr Kranken­bett durchzu­mogeln.

Tylers einziger Lichtblick in diesem Roman ist Felicity Ashcroft, genannt Flick. Das Mädchen aus reichem Hause ist – auf andere Weise – ebenfalls vernach­lässigt. Ihre Eltern sind als Militär­ange­hörige wochen­lang in Krisen­gebieten unterwegs und mit eigenen Problemen belastet. Ihre Tochter, in einem piek­feinen Internat unterge­bracht, hat sich mit gehörigem Selbst­bewusst­sein gewapp­net und nimmt sich einfach ihre Frei­heiten. Zwischen Arm und Reich macht sie keine Unter­schiede, nimmt Tyler mitsamt den Problemen seiner Familie (»Alle Familien sind abgefuckt«) so, wie er ist, fragt nicht viel und ist immer zur Stelle, wenn er in Not ist. Als die beiden zarte Liebes­bande knüpfen, kann der Autor einfühl­sam einen poeti­schen Ton an­schlagen. Ansonsten bestimmt ein zum Milieu passender rauer Jargon die Klang­farbe der Dialoge.

Der chaotisch verlaufene »Bruch« zwingt Tyler in eine tragische Notlage. Die Polizei ist rasch auf der richtigen Spur und rückt den Wallaces auf die Pelle. Tyler soll sich äußern, schon um Bethany zu schützen. Soll er sich also der Behörde anver­trauen und damit die Loyalität zur Familie aufgeben? Einzig von seiner Entschei­dung hängt es ab, welche Konse­quenzen seine kleine Schwester, seine neue Freundin und er selbst tragen müssen. Indessen üben die interes­sierten Parteien wach­senden Druck auf ihn aus: Barry pocht auf den Zu­sammen­halt der Familie. »Legt euch nicht mit den Wallaces an!« – das gilt auch für Tyler. Sollte der schwach werden und wem auch immer Hinweise geben, werden Barrys Hunde selbst den kleinen Bruder zerflei­schen. Und auch der Unterwelt­boss hat keine Skrupel, über Leichen zu gehen. Nachdem er (oder seine Leute? oder war es gar Barry?) Kelly umge­bracht haben, schweben auch über Tyler Todes­drohun­gen.

Die Herausforderung, immer den passenden Schein zu wahren, niemals Angst zu zeigen, vor dem nächsten Schritt gründlich abzuwägen, bis es fast zu spät ist, hat der Autor besonders gut erar­beitet. Bis zum hammer­harten Schluss werden Tylers Loyali­täten strapa­ziert wie zum Zerreißen gespannte Draht­seile. In der Freund­schaft zu Flick (»Du bist das Beste, was mir seit vielen Jahren passiert ist«, sagt sie, und die Aussage gilt auch in der umge­kehrten Richtung) schimmert das kleine Licht am Horizont, ein möglicher Ausweg aus dem finsteren Tunnel der sozialen Gegeben­heiten von Green­dyke.

Doug Johnstones Roman »Der Bruch«, übersetzt von Jürgen Bürger, fesselt den Leser von Anfang an bis zum Schluss. Es ist nicht nur ein packender Noir-Krimi, wie er düsterer kaum sein kann, sondern auch eine Studie über ein Milieu ohne positive Aus­sichten und ohne Hoffnung. So über­zeugend wie drastisch schildert der Autor die Perspektiv­losig­keit der Abge­hängten, die nichts mehr zu verlieren haben, in seinen authen­tisch gezeich­neten Figuren. Welche Zukunfts­chancen böten sich einem jungen Mann wie Tyler, so fragt man sich, wäre er nicht im Underdog-Milieu geboren? Viel­leicht wäre er ähnlich verwin­kelte und viel­seitige Wege gegangen wie der Autor. 1970 im schotti­schen Irvine geboren, arbeitete er als Sänger, Song­writer, Jour­nalist, Schrift­steller und, man glaubt es kaum, promo­vierter Atom­physiker. 2019 war »Breakers«, sein zehntes Buch, für die Wahl des besten schotti­schen Kriminal­romans des Jahres nominiert und stand auf der Auswahl­liste für den McIlvan­ney-Preis. (2020 folgte ihm John­stones neuester Roman »Dark Matter« auf die Short List.)

Dass es sich hier um »gute Kriminalliteratur« handelt, begründet der Schweizer Journa­list, Redakteur, Print-Unter­nehmer und -Berater Hanspeter Eggen­berger im Nachwort. Doug Johnstone »packt sozialen Realismus in eine harte und düstere […] Geschichte, die ohne lang­atmige Erklä­rungen oder bemühte Didaktik gesell­schaft­liche Verhält­nisse aufzeigt«. Damit unter­scheide er sich wohltuend von gehypter und populärer, nichts­desto­weniger oft anspruchs­loser Massen­ware, »von den unsäg­lichen Serien­killer­elabora­ten etwa, die mit immer abstru­seren Abschlach­tungen nach Aufmerk­samkeit heischen […], von all den plumpen Geschichten um trottelige Ermittler«.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2021 aufgenommen.


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