Rezension zu »Herr Merse bricht auf« von Karin Nohr

Herr Merse bricht auf

von


Belletristik · Knaus · · Gebunden · 288 S. · ISBN 9783813504477
Sprache: de · Herkunft: de

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Der Held von der traurigen Gestalt

Rezension vom 30.03.2013 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Er ist und bleibt – um das gleich vorwegzunehmen – ein armes, be­mit­lei­dens­wer­tes Würstchen. Dabei hat er Sommerferien. Als Musiklehrer muss er freilich mit Gott und der Welt zusammen Urlaub machen, und das empfindet er als eins der großen Handicaps seines Lebens.

Wenn dies nur alles wäre, dann könnten wir entspannt nach vorne schauen und uns auf eine Ferienlektüre à la Urlaub mit Herrn Merse einschießen. Doch die Autorin Karin Nohr, studierte Psychologin, führt uns mit dem 41-jährigen Ingo Merse, geborener Schwan, einen Mann vor, der schon seit seinem Kleinkindalter keine Chance auf eine eigene Entwicklung hatte, sich nie emanzipieren konnte und letztendlich auf ganzer Linie scheitert. Nicht einmal der Erzähler ist großherzig mit ihm: Im Gegensatz zu seinen Mit- bzw. Gegen­spielern läuft er durchgehend nur als »Herr Merse«.

Nach jedermanns Geschmack ist dieses Buch eher nicht; die triste Grundstimmung und die bisweilen lang­atmigen inneren Monologe belasten mit der Zeit nicht nur Herrn Merse, sondern auch uns Leser.

Seit drei Jahren ist Herr Merse geschieden. Seine kleine, kompakte Ex-Frau Dagmar (Flötistin) hatte in ihrer unangenehmen Kläffer-Art immer bestimmt, was Herr Merse (Hornist) zu tun und zu lassen habe. So hatte sie einen vermeintlichen »Hochsicherheitskokon« geschaffen, in den er sich hatte fallen lassen. Eines Tages aber fand Dagmar, dass die Chemie nicht mehr stimme. »Zwei Bläser, das konnte ja nicht gut gehen mit uns«, erklärte sie. Nun lebt sie mit einem zehn Jahre jüngeren Mann zusammen.

Da fiel Herr Merse in ein schwarzes Loch, brachte stationäre Therapien hinter sich. Jetzt geben ihm seine Psychopharmaka morgens den nötigen Schub, und abends lassen sie ihn in traumlosen künstlichen Schlaf wegdämmern.

Mit neuen Vorsätzen und Plänen startet Herr Merse in den wohlverdienten Urlaub. Er will seine Medika­mente ausschleichen, joggen, baden, intensiv lesen, selber kochen, mit den Menschen am Strand gemütlich klönen, vor allem auf seinem Horn üben. Das alles auf Sylt in der Ferienwohnung seiner älteren Schwester Barbara. Als sie Kinder waren, musste sie immer auf Brüderchen Ingo aufpassen. Wenn sie Schule spiel­ten, versuchte er damals noch, sich zu wehren. Doch ihre Züchtigungen mit dem Lineal und nicht einge­löste Versprechungen (»Du kannst dann Häsli [eine Fellpuppe] kriegen.«) ließen ihn zu einem Duckmäuser werden. Jetzt ist Barbara Schulleiterin eines Gymnasiums und mit einem besserwisserischen Richter ver­heiratet. Die Ferienwohnung überlässt sie ihm großzügig zum Nebensaisonpreis, »weil du eben ’ne Grille bist und nix hast«.

Leider zerschlagen sich die musikalischen Pläne. Das Brahmssche Horntrio gelangt ebenso wenig zur Per­fektion wie das Englisch-Horn-Solo aus Wagners »Tristan und Isolde«, denn ins Nachbarappartement zieht ein Herr ein, der an »vegetativer Dystonie« leidet; das Ehepaar bittet um Ruhe. Im Übrigen überprüft Herr Merse täglich sein Wohlbefinden, reduziert peu à peu die Tablettendosis. Allein mit seiner Gedankenwelt taucht er ab in die Johannes-Brahms-Biographie »Begegnung mit dem Menschen«. Der große Meister hat wie Herr Merse eine Zeitlang in Detmold gewirkt. Wie das wohl gewesen wäre, hätten beide zeitgleich an der Musikhochschule studiert … sicher wären sie Freunde geworden.

Neben einem Krimi hat Herr Merse nur schwere Kost im Gepäck. Robert Musils großen Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« hatte Dagmar ihm bei der Trennung überlassen (»Passt besser zu dir«). Täglich lässt Herr Merse den Zufall entscheiden: kleine Essays lesen, sie als Orakel, als Botschaften des Tages auf­neh­men – oder sich mit Musils Protagonist Ulrich austauschen, dem er sich nahe fühlt?

Von seinen Selbstzweifeln kann sich Herr Merse nicht befreien. Permanent hinterfragt er sein Handeln, hört dazu Dagmars dumme Kommentare (»mit deinem Getröte«). Mal gesteht er sich positive Eigenschaf­ten zu – »fleißig, zurückhaltend, treu, wahrhaftig« –, dann wiederum hadert er mit seinem Wesen: »schweigsam, langsam, fad. Er dackelte hinter den Ereignissen her.«

Karin Nohrs Debütroman »Herr Merse bricht auf« wird im Verlauf der Handlung immer bedrückender. Anfangs glauben wir noch, einfach amüsant unterhalten zu werden. Herr Merse wird als merkwürdiger Kauz präsentiert – ein treudoofer, weltfremder Waschlappen, der Mutters selbstgestrickte bunte Woll­socken und Hustenbonbons im Gepäck hat, beim Strandspaziergang statt Badehose eigenwillige Boxer­shorts trägt (»jägergrün mit Stockenten drauf« und noch von seiner Ex-Frau Dagmar gekauft) und seit Kin­dertagen Angst davor hat, bei Ebbe baden zu gehen. Kann er sich frei schwimmen?

Doch was sich dann entwickelt, ist ein intelligentes, intellektuelles Psychogramm einer zutiefst ver- und zerstörten Seele. Die inneren Mono- und Dialoge, die Herr Merse mit seinen imaginären Gesprächspart­nern Johannes und Ulrich ausführt, offenbaren einen Menschen, der sich nach Liebe und Anerkennung sehnt, aber vor lauter Versagensängsten sein Leben nie wird meistern können. Ein wenig Hoffnung schim­mert auf, als er Frau Annemarie Luner begegnet, der alleinerziehenden Mutter zweier Kinder. Kann viel­leicht sie ihm Glück und Halt bringen? Aber nein. Auch diese Episode entpuppt sich als buntschillernde Seifenblase, die an Sylts blauem Himmel schnell platzen wird …


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