Oh!
So so, prüde sind sie also, die Untertanen ihrer britischen Majestät. Dies sagt das Klischee, und wer viktorianische Romane (oder ihre zahlreichen Verfilmungen) genossen oder betuliche elderly ladies mit gepudertem Antlitz kennengelernt hat, glaubt’s aufs Wort: »No sex please, we’re British!« Andererseits: Bei den alten Barden von Chaucer bis Shakespeare lernen wir, dass auch jenseits des Kanals Menschen mit deftigen Parolen, Gelüsten und Gebräuchen zu Hause waren und später mit puritanischem Lack nur notdürftig überdeckt wurde, was zum Beispiel The Sun auf page three ganz unverhüllt anstachelt.
Und jetzt kommt Alan Bennett daher und bietet »Smut« an – eine Vokabel, die der Hanseat mit spitzen Fingern als »Schweinkram« entsorgt, bei südlicher beheimateten Deutschen aber auch in eine deftige »Sauerei« ausarten kann. Es handle sich um »Two Unseemly Stories«, bekräftigt der Untertitel des Originals von 2011 , und Ingo Herzke ordnet sie in seiner Übersetzung sinnentsprechend als »unziemliche Geschichten« ein. Die wunderbare hauseigene Ausstattung des Wagenbach-Verlages – Bindung in rotem Leinen, Prägedruck, aufgeklebte Vignette eines heimlichen Späherauges hinter der Blümchentapete – spitzt unsere Erwartungen weiter zu: Vornehme Frivolität und Spitzenhäubchen?
Mrs. Donaldson erblüht
Dass Mrs. Jane Donaldson das Haus untervermietet, hätte Cyril nie geduldet. Doch nach seinem Tod ist die Pension nicht so üppig ausgefallen, wie die Witwe das erwartet hatte, und da musste sich die agile 55-Jährige etwas einfallen lassen. Schon seit Längerem geht sie regelmäßig ins Krankenhaus, wo sie keine Diagnose mehr schrecken kann: Infarkt, Zwölffingerdarmgeschwür, Krebs, Demenz … Doch sorgen Sie sich nicht: Mrs. Donaldson will nur spielen. Oberarzt Dr Ballantyne hat sie gegen kleines Entgelt als »SP« engagiert, um die Ärzteausbildung durch Rollenspiele mit simulierten Patienten recht praxisnah zu gestalten.
Nach dem bedauerlichen Dahinscheiden ihres tadellosen Ehemannes will sich Mrs. Donaldson nicht auf einen »angemessenen Witwenstand« einlassen. Zum Leidwesen ihrer Tochter Gwen, 22, die sich jetzt als Vaters Stellvertreter aufspielt, findet sie sich keineswegs mit »würdevoller Einsamkeit« ab. Der Job im Hospital kommt ihr wie gerufen. Sie benötigt dafür nicht Fertigkeiten noch Qualifikationen, und er macht ihr Spaß. Anfangs noch zögerlich, öffnet sie sich mit der Zeit mehr und mehr und reüssiert bald anerkanntermaßen als »die Gewiefteste« im Team.
Dann kommt ihr die Idee, ein Zimmer an Studenten zu vermieten. Laura und Andy sind ihre ersten Kunden. Gwen ist skeptisch, was die finanzielle Potenz der beiden angeht, und sie soll Recht behalten. Schon nach kurzer Zeit lässt die Zahlungsmoral nach. Doch die Jugend (abgesehen von Gwen) ist unkompliziert, hemmungslos und einfallsreich. Das Pärchen macht Mrs. Donaldson einen Vorschlag, der zwar nichts an ihrer pekuniären Situation verbessert, den sie aber auch nicht ablehnen kann, ohne »undankbar zu erscheinen«. Damit beginnt eine Serie von Aktivitäten, die Laura und Andy Freude bereiten, Mrs. Donaldson zu ungekannter Blüte treiben und dem Autor Gelegenheit zu präzisen, aber weniger für uns Leser als für die Protagonistin peinlichen Beschreibungen bieten. An diese Art von Bezahlung des Mietzinses könnte sich Mrs. Donaldson gewöhnen, doch bald ziehen die jungen Leute aus …
Mrs. Forbes wird behütet
Mrs. Forbes ist stolz auf Graham, ihren ausgesprochen gut gebauten, stets gepflegten, einfach schönen Sohn. Wie kann er sich nur mit dieser unansehnlichen Betty vermählen, die älter ist als er und dann noch so einen gewöhnlichen, langweiligen Namen hat? Nun ja: Betty ist eine reiche Erbin, und Graham ist schwul. In dieser ungleichen Liaison kann er seine Vorlieben in aller Heimlichkeit weiter ausleben, während Betty den Haushalt verwaltet und, ohne dass ihr Gatte es ahnt, das Aktienportfolio vergrößert.
Mr Edward Forbes ist Mrs. Forbes’ »stummes Anhängsel«. Wenn sie aufschnappt, wie er von »Titten« spricht, ist sie peinlich berührt, denn sie findet, für solches Vokabular sei er einfach zu alt – ebenso wie für so manches andere. So flüchtet er mit seinen geheimen Wünschen ins Internet und ist auch seiner Schwiegertochter weit mehr zugetan, als alle wissen können.
Mrs. Forbes ahnt nicht, was für Geheimnisse alle Familienmitglieder vor ihr hüten; dafür ahnen allerdings auch die nicht, was sie erlebt hat …
Von den »zwei unziemlichen Geschichten«, die Alan Bennett erzählt, zeigt die erste des Autors wahre Klasse. In brillanten, pointierten Dialogen legen seine Figuren bühnenreife Kleinkunst aufs Papier. Wir sind es, die durchs Schlüsselloch schauen, an der Wand lauschen und süffisante Beschreibungen lesen, deren explizite Delikatesse dem einen oder anderen vielleicht schon zu weit gehen könnte. Ordinär sind sie aber nie, und deshalb ist »Smut« hier mit »Schweinkram« sehr ziemlich übersetzt.