Rara Avis – seltener Vogel
Der zwölfjährige Frankie ist ein Junge, wie es ihn wohl nur einmal gibt. Er ist zuverlässig, ordentlich, fleißig, hilfsbereit, er liebt Sprache, sammelt Adverbien, kann ohne Schwierigkeiten über fünfzig Vogelnamen aufzählen, und auf seiner langen Liste ekelhafter Erfahrungen rangieren ganz oben blutige Pflaster, Schorf, Popel und was einem noch so alles vor die Nase treiben mag, wenn man im Schwimmbecken seine Bahnen zieht.
In seiner Familie läuft so gut wie nichts ohne ihn. Sein Vater, Onkel George, kommt um vor Arbeit. Der ältere Bruder Louie ist schon seit längerem ausgezogen. Seit einem Ladendiebstahl hat er Hausverbot und kann unmöglich einkaufen gehen. Auch die ältere Schwester Gordana hat immer eine passende Ausrede, wenn's ums tägliche Essen geht. Mutter Francie hat seit neun Jahren das Haus nicht mehr verlassen. Sie hat ein kleines Unternehmen, backt die schönsten Torten und Plätzchen für außer Haus. Schließlich gehört noch Fettrolle, Frankies Katze, zur Familie. Mit ihr haben er und Freund Gigs das Schulprojekt "Katzen kraulen, Stress vergraulen" gewonnen. Ihre Probanden waren u.a. Frankies drei dicke Tanten, die Dienstagsabends regelmäßig zum Essen und Kartenspielen kommen.
Auf Freund Gigs ist immer Verlass. Ohne ihn sähe Frankie oft arm aus, wenn jemand das Notsparschwein geplündert hat. Mit "Chilun", einer Geheimsprache, zusammengesetzt aus Küchenlatein, umgedrehten Silben, gekappten Wörtern und russischen Anleihen, können sie sich ungestört unterhalten.
Zum Wendepunkt in Frankies Leben wird Sydney, das neue Mädchen in der Klasse. Sie trägt Dread Locks, ignoriert die Mall-Mädchen und ist beim Cricketspiel manchem Jungen überlegen. Mit ihr beginnt er nicht nur sein neues Schulprojekt, sondern spricht auch mit ihr über die Dinge, die ihn belasten. Sydney vertraut ihm, nennt ihn Rara Avis. Auch in ihrem Leben sieht es nicht so rosig aus, wie es auf den ersten Blick scheint – aber sie ist hart im Nehmen. Könnte Frankie nur auch so sein! Weil jedoch nie jemand da ist, der seiner Mutter hilft, trägt er die Sorgen, und seine Ängste rauben ihm den Schlaf.
Ein anspruchsvolles Jugendbuch voller Phantasie, Humor und spritzigen Ideen, unter dessen Oberfläche ein schwieriges Thema einfühlsam eingebettet ist: die psychische Erkrankung der Mutter und ihre Auswirkung auf Frankie. So wie er (und der junge Leser) nicht verstehen kann, warum seine Mutter nie das Haus verlässt und gerne melancholische Romane russischer Dichter liest, so lernt er langsam zu akzeptieren, dass sie sich in ihrer kleinen Welt geborgen fühlt; sie benötigt seine tägliche Hilfe nicht mehr. Mit diesem guten Gefühl wird Frankie loslassen können, persönliche Freiräume gewinnen. Nachdem er auf die Teilnahme am Schulcamp verzichtet hat, wird er jetzt bei Freunden übernachten können.
Kate de Goldi erhielt für "Abends um 10" den "New Zealand Post Book of the Year Award".