Eng Burn, der Bach des Todes
Im schottischen Internat St. George bereitet man sich geschäftig auf den Ehrentag des Schutzheiligen Schottlands, St. Andrew, vor. Lehrerin Lili Campbell lernt dabei Sir Niall Munroy kennen, den Vater ihrer Schülerin Isobel, die am Festabend den berühmten schottischen Schwerttanz vorführen soll. Niall ist überglücklich, seine sonst so verschlossene Tochter völlig verändert wiederzusehen: Sie ist lebhaft und offen, und das ist Miss Campbells Verdienst, die sich rührend um die Kleine bemüht hat. Als die wichtigste Bezugsperson darf Lili seine Tochter auch "Bella" rufen – was außer der verstorbenen Mutter niemandem zustand.
Sir Niall Munroy ist ein Mann, wie Lili ihn sich immer gewünscht hat – charmant und ein Schöngeist, der sich für Literatur und Kunst interessiert. Überraschenderweise macht er ihr am nächsten Tag einen Heiratsantrag. Doch Lili ist nicht in der Verfassung, ihr Glück am Schopfe zu packen, denn am Vortag ist ihre Mutter verstorben. Außerdem erschreckt und belastet sie der Hinweis eines Kollegen, dass Isobels Mutter Selbstmord begangen habe – warum mag sie das getan haben? Und ohnehin erschweren Probleme des Standesunterschieds (Lili ist das uneheliche Kind einer Köchin) die Verbindung. So schreibt sie Niall einen Brief, in dem sie sein Angebot ablehnt.
Am letzten Schultag vor den Weihnachtsferien bittet Sir Niall Lili um ein letztes Gespräch. Er nimmt sie zärtlich in den Arm und umwirbt sie mit den Worten des Dichters Robert Burns. Nach einem innigen Kuss verdrängt sie ihre Bedenken und gibt seinem Werben nach.
Nun muss Isobel also nicht allein mit ihrem Vater zurück in die Highlands, sondern Lili wird mit ihr gehen und den Vater heiraten. Aber Lili hat Isobels Reaktion nicht richtig voraussehen können. Mit versteinertem Blick nimmt das Mädchen die Nachricht auf und sagt, Großmutter werde all dem nie zustimmen.
Was noch alles auf sie zukommt, kann Lili sich in ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen (ebenso wenig wie der Leser). Sie bricht mit Niall nach Inverness auf und wird in eine Schlangengrube fallen. Isobel wird sie hassen, ihre Schwiegermutter wird sie nur als Gebärmaschine für den nächsten Baronet sehen, und sie wird den Sticheleien von Nialls engsten Verwandten ausgesetzt sein. Und was am schlimmsten ist: Niall wird sich in einen Patriarchen mit herrischem Tonfall verwandeln. Einzig Großmutter Mhairie und Enkel Dusten sind ihr wohlgesonnen.
Was von der Plot-Oberfläche her durchaus einen Kitschroman befürchten lässt, entpuppt sich bei der Lektüre als überaus spannendes Familienepos, das mit der ergreifenden Geschichte seines Schauplatzes eng verwoben ist. Die Handlung spielt in den schottischen Highlands 1850 bis 1854 und 1913 bis 1914; sie hat ihre Wurzeln in der Schlacht von Culloden vom 16. April 1746, in der die tapferen, aber geschwächten und zweifelhaft beratenen aufständischen Highlanders des schottischen Hoffnungsträgers Bonnie Prince Charlie (Prinz Charles Edward Stuart) von englischen Regierungstruppen endgültig besiegt wurden. Für die Schotten war dies eine traumatische Erfahrung, die ihre Jahrhunderte alte Kultur und Gesellschaftsstruktur zerstörte und bis heute nachwirkt. Nach dem Sieg der Engländer, auf deren Seite auch schottische Clans gekämpft hatten, herrschte Chaos, Mord und Totschlag in Schottland, denn die siegreichen Clans marodierten durchs Land und vertrieben die Gegner von ihren Ländereien.
Amy Camerons Roman "Der Ruf der Highlands" beschreibt packend die jahrelange, tief verwurzelte Feindschaft zwischen dem Clan der Mackenzies, die den Jakobitenaufstand unterstützt hatten, und dem der Munroys. Letztere vertrieben die Mackenzies von ihrem prachtvollen Anwesen. Doch ein Mackenzie kehrt wieder und fordert von einem Munroy etwas zurück, das ihm gehört, nämlich die Frau, die der andere mittlerweile geheiratet hat. Sie erwartet ihr zweites Kind und lebt in dem Glauben, ihr Geliebter sei längst gestorben. Voller Aggression stoßen die beiden wie zwei Kampfhähne aufeinander. Es geht um Leben und Tod. Schließlich ertränkt der eine den anderen in den Wassern des Eng Burn. Aber der Hass wird weiter und weiter getragen – bis hinein in Lili Campbells Leben.