Vergessene Tapferkeit
Das zweitausend Jahre alte Carcassonne, im Süden Frankreichs unweit der Grenze zu Spanien, schaut auf eine bewegte Geschichte zurück. Seine Lage an bedeutenden europäischen Verbindungswegen hat seit Urzeiten entschlossene Menschen vorbeigeführt und verweilen lassen, deren Wissen und Schätze die Stadt und ihre Herren bereicherten. Andererseits mussten sich ihre Bewohner ständig gegen gierige Angreifer wappnen, wovon noch heute die wehrhafte, vieltürmige Mauer zeugt, die die mittelalterliche Festung auf dem langgestreckten Hügel gleich doppelt umfängt.
In ihrem Roman »Citadel« reizt die britische Autorin Kate Mosse die historische Spannweite des Schauplatzes aus. Sie erzählt eine Geschichte von mutigen Frauen in der Résistance der Kriegsjahre 1942 bis 1944 und verknüpft sie mit einer fantasievoll erdachten Episode aus frühchristlicher Zeit. Die beiden Handlungsstränge entwickelt sie über 702 Seiten. (Die bei Droemer verlegte deutsche Übersetzung von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann ist fast 900 Seiten stark. Gedruckt auf dünnem Papier, liegt das schöne Buch erfreulicherweise nicht ganz so schwer in der Hand.)
Seit 325 werden die Christen nicht mehr verfolgt, und ihre Religion kann sich frei entwickeln. Frei ausgefochten werden nun allerdings auch die Auseinandersetzungen darüber, welche Schriftquellen anerkannt und wie die Texte ausgelegt werden sollen. Dabei gibt es Sieger und Verlierer, Herrschende und Unterdrückte.
Deshalb ist der junge Mönch Arinius im Frühsommer 342 seit Monaten auf Wanderschaft. Unter seiner Tunika trägt er einen kostbaren Papyrus-Codex. Die koptische Schrift kann er nicht lesen, den Inhalt der sieben Verse kennt er nur grob. Aber er weiß, dass dieses Werk von göttlicher Bedeutung ist und große Macht verleiht.
Dennoch hat der Abt von Arinius' Gemeinschaft in Lugdunum (Lyon) den Codex als Teufelswerk verboten und alle, die ihn verteidigten, als Häretiker verfemt. Aber Arinius und einige Mitbrüder blieben standhaft. Sie brachen mit je einer Abschrift des Codex auf, um den Text ins Heilige Jerusalem, nach Memphis oder Theben in Ägypten zu schmuggeln. Ihrem einzigen Daseinszweck auf Erden folgend, hallt ihnen der Zorn ihres Abtes nach, aber ihr fester Glaube trägt sie voran und gibt ihnen Kraft.
Mit dem jungen Arinius, der sich ständig vor Häschern und den Soldaten des Kaisers in Acht nehmen muss, gelangen wir in die gallische Provinzstadt Colonia Iulia Carcaso (Carcassonne). In den quirligen Gassen leben Menschen mit vielerlei Hautfarben und fremdartigen Trachten, bieten ihre Waren und ihr Handwerk feil. Nach Kaiser Konstantins Tod ist die schon damals mauerbewehrte Stadt, die Eroberern und Kriegern standgehalten hatte, in Aufruhr. Werden bald Stämme aus dem Osten angreifen? Arinius zieht weiter in die Berge, ernährt sich von dem, was die Natur ihm gibt, wird von einem Gewitter heimgesucht und erkrankt schwer. Die junge Lupa entdeckt den Bewusstlosen, pflegt ihn und bringt ihn in ihr Hüttendorf Tarasco (Tarascon). Sein Ziel, den Codex weiterzutragen, muss Arinius aufgeben, und als er sich in das Mädchen verliebt und weiß, wo er bleiben kann, wird die mysteriöse Schrift an einem sicheren Ort versteckt ...
Auf der zweiten Zeitschiene (1942-1944) trägt sich die titelgebende Geschichte »Die Frauen von Carcassonne« zu, die mehr als zwei Drittel des gesamten Romanumfangs einnimmt und ab und zu von den »Codex«-Kapiteln unterbrochen wird. Zu der modernen Handlung, ebenfalls fiktiv, inspirierte die Autorin eine Gedenkstätte im Dorf Roullens bei Carcassonne. Eine Tafel erinnert an die »Märtyrer von Baudrigues«, neunzehn Gefangene, die am 19. August 1944 von fliehenden deutschen Soldaten hingerichtet wurden, drei Gedenksteine sind den führenden Widerstandskämpfern im Département Aude und anderen Mitgliedern der Résistance gewidmet, darunter zwei unbekannten Frauen.
Nach dem Krieg wurden mehr als fünfzigtausend Médailles de la Résistance verliehen, aber nur wenige davon an Frauen. So ist »Die Frauen von Carcassonne« eine Hommage, ein später Dank an die vielen anonym gebliebenen Kämpferinnen, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, um Verfolgten des Naziregimes zu helfen, den Alliierten Informationen über Bewaffnung und Bewegungen der deutschen Truppen zuzuspielen oder Sabotageakte gegen die Wehrmacht auszuführen.
Während der Kriegsjahre 1940 bis 1944 ist Frankreich zweigeteilt: Der von Maréchal Pétain regierte Norden ist dem deutschen Militärbefehlshaber in Paris unterstellt, der Süden gilt als Unbesetzte Zone (»Zone libre«).
Protagonistin des Plots ist die jungenhafte, hübsche Sandrine Vidal, die mit ihrer älteren Schwester Marianne und der tiefgläubigen Haushälterin Marieta im Haus der verstorbenen Eltern ein behütetes Leben genießt. Im Juli 1942 wird die naive, lebenslustige Achtzehnjährige unvorbereitet als verantwortungsvolle Erwachsene gefordert, als sie im Wasser der Aude einen bewusstlos dahintreibenden Mann entdeckt. Schnell begreift sie, dass man ihn misshandelt hat, aber er signalisiert ihr, dass sie keinesfalls die Polizei rufen dürfe. Verzweifelt flüstert er: »Baillard ... Trouvez-le.« sowie rätselhafte Worte über »Geister der Luft«. Schon gerät Sandrine selbst in Lebensgefahr, wird im letzten Moment gerettet und kommt bei diesen dramatischen Ereignissen mit der jungen Lucie Ménard, ihrem Freund Max Blum und dem aktiven Widerstandskämpfer Raoul in Kontakt. Obwohl auch Lucie rät, sie solle »keinem was davon sagen«, vertraut Sandrine weiter brav der Ordnungsmacht der Police Nationale und meldet das Verbrechen und den Überfall auf sie. Doch ihr schlichtes Weltbild wird weiter in Frage gestellt, als selbst ihre Schwester Marianne sie ins Gebet nimmt ...
In der Folge muss Sandrine schwierige Wahrheiten verkraften. Max Blum ist ein aus Paris in die »zone libre« geflohener Jude. Noch lässt Pétain die Juden in Frieden, aber wie lange kann er sich den wachsenden Forderungen der Deutschen nach ihrer Auslieferung widersetzen? Um der Verschlimmerung der Lage entgegenzuwirken, arbeiten nicht nur Raoul, sondern sogar Marianne und viele Freundinnen längst im Widerstand.
Nun schließt sich auch Sandrine an. Sie übernimmt die Aufgabe, das neue weibliche Netzwerk »Citadelle« zu organisieren. Immer und überall lauern Gefahren. Die französische Polizei liefert die Kämpfer an die Deutschen aus, aber auch manche Teile der französischen Zivilbevölkerung dienen sich den Machthabern an. Zwischen all den täglichen Herausforderungen, den bedrückenden Berichten aus den Zwangsarbeiterlagern, den verzweifelten Aktionen, um Max Blum vor der Deportation zu bewahren, keimt zwischen Raoul und Sandrine eine zarte Liebesbeziehung, die nur ganz geheim gelebt werden kann. Beide sind bereit, ihr Leben zu geben, um den anderen aus der Hölle der Unterdrückung und Verfolgung zu befreien.
Es ist Arinius' Codex, der die beiden Handlungsstränge über eineinhalb Jahrtausende verbindet. Sein Verbleib ist unbekannt, und nur Legenden überliefern, was er enthielt und vermochte. Wer die Verse in Händen hält, verfügt über die Macht der Geister, mit »zehntausend mal zehntausend« Kämpfern die Schlacht zu gewinnen. Das lockt Leo Authié, der das Kommando im Deuxième Bureau des Palais de Justice innehat. Er ist aber auch ein »Diener Gottes« – und einer der miesesten Kollaborateure der Gestapo. Um in den Besitz des Codex zu gelangen, würde er über Leichen gehen. Er bringt Sandrine in seine Gewalt, es kommt zum Showdown, und die Geister der Luft erheben sich ...
Die Verknüpfung eines neuzeitlichen Plots mit fiktiven Ereignissen aus einer mystischen Vergangenheit ist Kate Mosse' Erfolgsrezept, das sie schon in früheren Büchern praktizierte (»Die achte Karte« / »Sepulchre« ; »Das verlorene Labyrinth« / »Labyrinth« ). Die Doppelung finde ich hier allerdings unnötig und sogar störend. Das bislang vernachlässigte Thema der weiblichen Résistance in Frankreich verdient eine eigenständige, seriöse Behandlung, und die Autorin hat es würdig, anspruchsvoll und umfangreich zur Geltung gebracht. Die Erweiterung um das weitgehend irrationale Codex-Motiv (die mysteriöse Macht der Geister) schwächt dagegen die historische Seriosität, lenkt die Konzentration ab und bremst das Erzähltempo aus, ohne etwas annähernd Gleichwertiges hinzuzufügen.