
Spionage weichgespült
Die Expo '58 in Brüssel war die erste Weltausstellung nach dem Zweiten Weltkrieg. Ihr Motto »Technik im Dienste des Menschen« fand seine bis heute imposante Vergegenständlichung in der über 100 Meter hohen Stahlskulptur »Atomium«, der milliardenfachen Vergrößerung einer Eisenkristallstruktur. Die gigantische Konstruktion sollte eine breite Öffentlichkeit einerseits an die hohe Zeit der belgischen Schwerindustrie erinnern, andererseits die glorreichen Perspektiven moderner Zukunftstechnologien wie Raumfahrt und Nutzung der Atomkraft vor Augen führen.
Auf den umgebenden 125 Hektar des Heysel-Plateaus stellten 48 Länder ihre Errungenschaften in Technologie, Wirtschaft und Kultur vor. Wiewohl als Ziel »die Förderung einer echten, auf dem Respekt vor der Individualität des Einzelnen basierenden Eintracht unter den Menschen« deklariert war, prägte Rivalität den Geist der Ausstellung. Denn viel stärker als die Zuversicht, dass der strahlende Technologie-Fortschritt Friede und Wohlergehen unter allen Menschen befördern werde, schwelte in den verfeindeten Lagern der NATO-Verbündeten und des Warschauer Pakts die Angst, die andere Seite werde das neue Wissen um die Kernenergie zur Zerstörung des Gegners einsetzen. So steuerten die Spannungen zwischen Ost und West immer neuen Spitzen entgegen. Dass die Pavillons der rivalisierenden Supermächte USA und Sowjetunion nebeneinander lagen, konnte man »als kleine Kostprobe belgischen Humors« verstehen.
Eine gehörige Portion britischen Humors hat der englische Autor Jonathan Coe in seinen Spionage-/Liebesroman »Expo 58« eingerührt, der den titelgebenden Schauplatz und die Atmosphäre jenes Jahres als Setting nutzt. Der Titel der deutschen Ausgabe (Übersetzung von Walter Ahlers) spielt unübersehbar auf Ian Flemings Roman »Liebesgrüße aus Moskau« an, was programmatisch gemeint ist, denn Coe persifliert Flemings Superagenten 007, indem er seinen Antihelden Thomas Foley in die Dienste des britischen Geheimdienstes stellt und auch das kleine Techtelmechtel zwischen James Bond und der hübschen Spionin Tatjana Romanova würdigt. So ist ein leichtfüßiger, intelligenter Agententhriller der leisen, hintergründigen Art entstanden.
Thomas Foley ist 32 Jahre alt, sieht aus wie Gary Cooper (oder Dirk Bogarde?) und hat eine seit vierzehn Jahren gemächlich, aber stetig steigende Karriere hinter sich. Sie sah ihn anfangs als Bürobote und nun als Juniortexter im britischen »Zentralen Informationsbüro«, wo er Merkblätter zur öffentlichen Gesundheit und Sicherheit verfasst. Diesen willfährigen, unscheinbaren Mann (»ein stiller Mensch«), schickt Jonathan Coe auf glattes Parkett.
Thomas Foley wird »unser Mann in Brüssel«. Als Sohn eines britischen Gastwirts und einer Belgierin (die das Land freilich schon als Kind verlassen hatte) ist er prädestiniert für diese Aufgabe, finden die Herren des Planungskomitees Expo im Foreign Office. Schwieriger gestaltet sich die Definition des »typisch Britischen«, das der Welt vorgeführt werden sollte. James Gardner hatte den modernen Regierungspavillon entworfen, der Britanniens vielfältige Geschichte und Traditionen mit der Zukunft verknüpfen würde; daneben errichtete die Privatwirtschaft einen Industriepavillon, von dem sie sich »möglichst viele lukrative Geschäfte« erhoffte. Zwischen dem »kulturellen und historischen Schaufenster« und dem der »Nation von Krämern« sollte »ein uriges altes Wirtshaus, so britisch wie ... Bowlerhut und Fisch und Chips« den Nationalcharakter repräsentieren, mit Thomas Foley in geschäftsführender Funktion. Doch dann gilt es, nicht zu rückwärtsgewandt aufzutreten, und gemäß der britischen Fähigkeit, »vorneweg zu marschieren, ohne unsere Vergangenheit hinter uns zu lassen«, verpasst man dem Pub »The Britannia« schließlich das lichte Ambiente eines zeitgemäßen Jachtclubs.
In Brüssel bezieht Thomas eine auf geringste Ansprüche reduzierte Kabine in einer Art Motel-Container-Dorf. Überdies muss er die winzige Behausung mit einem Landsmann teilen: Tony Buttress, wissenschaftlicher Berater des britischen Pavillons und als solcher zuständig für die ZETA-Maschine, den Heiligen Gral der Wissenschaft, die Speerspitze britischer Technologie auf dem Weg zur Kernfusion, die die Energieprobleme der Menschheit lösen wird. Natürlich unterliegt alles höchster Geheimhaltung und wird nur als Replik ausgestellt. Doch von all dem hat der geistig nicht allzu bewegliche Foley ohnehin keinen blassen Schimmer.
Da ist es kein Wunder, dass ihm diverse Begebenheiten, in die er gänzlich unbedarft hineinschliddert, mysteriös erscheinen. Bereits vor seinem Amtsantritt in Brüssel schleppen ihn drei Männer in ein Café und horchen ihn aus, ob er »Mitglied der Kommunistischen Partei« sei und was er »von dem Zirkus da drüben in Belgien« halte. Schon »dieses Gespräch hat natürlich nie stattgefunden«, und auch hinfort werden sich die allwissenden Herren mit Schlapphut die meiste Zeit fein im Hintergrund halten, doch Foley immer wieder zu nervtötenden Unzeiten heimsuchen, ihn gar entführen lassen, um ihn auf die wichtigste Aufgabe seines Lebens vorzubereiten.
Es handelt sich um eine »Art Notintervention« auf dem Tummelplatz der Agentinnen und Agenten. Überall auf dem Expo-Gelände – im Pub, auf Partys und Empfängen – ist Foley von Leuten umgeben, deren Identität und Treiben der Leser zwar ahnt, doch mitnichten Foley. So schaut Mr Chersky, russischer Journalist und Redakteur der Zeitung »Sputnik«, allzu gern im »Britannia« vorbei, um »Salt'n'Shake«-Chips zu knabbern und mit Foley zu plaudern, der, vom sympathischsten Lächeln bezaubert, arglos Dinge ausplappert, die besser unter Verschluss bleiben sollten. Mr Chersky umgarnt im Pub allerdings ebenso charmant die umwerfend schöne Emily aus Wisconsin. Die hoovert im US-Pavillon unentwegt Berge von Staub weg, um der neidischen Welt vor Augen zu führen, wie moderne Geräte die amerikanische Hausfrau in paradiesische Zustände entheben. Auch Kabinengenosse Tony Buttress kann sich Emilys Reizen nicht verschließen.
Thomas, verheiratet mit Sylvia (unpolitisch) und Vater des gemeinsamen Töchterchens Baby Gill, umflattern zarte Liebesbande schon bei seiner Ankunft am Flughafen Brüssel, als er erstmals der Hostess Anneke gewahr wird. Der strenge Verhaltenskodex für die mehrsprachig ausgebildeten wichtigsten Botschafterinnen der Weltausstellung kann die ehrliche Zuneigung zwischen den beiden nicht verhindern. Die Beziehung wird weit über die Ausstellungszeit hinaus währen und für Foley ein melodramatisches Ende nehmen.
Bei Ian Fleming liest der arme Thomas Foley, wie gnadenlos brutal die sowjetischen Machthaber sind, und ist danach überzeugt, dass er seine Pflicht für Königin und Vaterland erfüllen und gegen das Böse antreten muss. Ein bisschen gebauchpinselt ist er allerdings auch, dass er als Köder in einer Liebesintrige den romantischen Helden spielen soll. Seine Romanze mit Anneke muss dazu ein wenig hintanstehen, doch wird er ihr das mit den richtigen Worten erklären können, so wie er auch der zu Hause verbliebenen Sylvia das eine oder andere als »Liebesgrüße aus Brüssel« kommuniziert.
Insgesamt ist dieser Anti-Spionagethriller eine harmlose, eher seichte, aber durchaus amüsante Lektüre, die ihren Reiz dem trocken-süffisanten Stil und der skurrilen Inszenierung damaliger Realität und Mentalität verdankt. Zwei der zahlreichen karikaturhaften Spitzen sind die Unterredungen des britischen Architekten Gardner mit Sir John vom Außenministerium, im Eingangsbereich des Pavillons als »Britanniens Beitrag zur Entsorgung menschlicher Exkremente« einen Abort einzubauen, und die Beschreibung der belgischen Ausstellungssektion zu den Kolonien Kongo und Ruanda-Urundi, in der ein paar »leibhaftige Neger« in einem authentischen Eingeborenendorf einquartiert wurden. Hiervon ist selbst Thomas peinlich berührt, und tatsächlich verließen die Afrikaner die Expo vorzeitig, nachdem Besucher sie wie Zootiere mit Bananen gefüttert hatten.