Rezension zu »Liebesgrüße aus Brüssel« von Jonathan Coe

Liebesgrüße aus Brüssel

von


Belletristik · DVA · · Gebunden · 320 S. · ISBN 9783421046147
Sprache: de · Herkunft: gb

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Spionage weichgespült

Rezension vom 10.10.2014 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Die Expo '58 in Brüssel war die erste Weltausstellung nach dem Zweiten Welt­krieg. Ihr Motto »Technik im Dienste des Menschen« fand seine bis heute im­po­san­te Vergegenständlichung in der über 100 Meter hohen Stahlskulptur »Ato­mi­um«, der milliardenfachen Ver­grö­ße­rung einer Eisenkristallstruktur. Die gi­gantische Konstruktion sollte eine breite Öffentlichkeit ei­ner­seits an die hohe Zeit der belgischen Schwer­industrie erinnern, andererseits die glorreichen Perspektiven moderner Zukunftstechnologien wie Raum­fahrt und Nutzung der Atomkraft vor Augen führen.

Auf den umgebenden 125 Hektar des Heysel-Plateaus stellten 48 Länder ihre Errungenschaften in Tech­no­lo­gie, Wirtschaft und Kultur vor. Wiewohl als Ziel »die Förderung einer echten, auf dem Respekt vor der In­di­vi­du­al­i­tät des Einzelnen basierenden Eintracht unter den Menschen« deklariert war, prägte Rivali­tät den Geist der Ausstellung. Denn viel stärker als die Zuversicht, dass der strahlende Technologie-Fort­schritt Friede und Wohlergehen unter allen Menschen befördern werde, schwelte in den verfeindeten La­gern der NATO-Verbündeten und des Warschauer Pakts die Angst, die andere Seite werde das neue Wis­sen um die Kern­ener­gie zur Zerstörung des Gegners einsetzen. So steuerten die Spannungen zwischen Ost und West immer neuen Spitzen entgegen. Dass die Pavillons der rivalisierenden Supermächte USA und Sowjetunion ne­ben­ein­an­der lagen, konnte man »als kleine Kostprobe belgischen Humors« verstehen.

Eine gehörige Portion britischen Humors hat der englische Autor Jonathan Coe in seinen Spio­na­ge-/Lie­bes­ro­man »Expo 58« Jonathan Coe: »Expo 58« bei Amazon eingerührt, der den titelgebenden Schauplatz und die Atmosphäre jenes Jahres als Setting nutzt. Der Titel der deutschen Ausgabe (Übersetzung von Walter Ahlers) spielt un­übersehbar auf Ian Flemings Roman »Liebesgrüße aus Moskau« an, was programmatisch gemeint ist, denn Coe per­si­fliert Flemings Superagenten 007, indem er seinen Antihelden Thomas Foley in die Dienste des bri­ti­schen Geheimdienstes stellt und auch das kleine Techtelmechtel zwischen James Bond und der hüb­schen Spi­o­nin Tatjana Romanova würdigt. So ist ein leichtfüßiger, intelligenter Agententhriller der leisen, hin­ter­grün­di­gen Art entstanden.

Thomas Foley ist 32 Jahre alt, sieht aus wie Gary Cooper (oder Dirk Bogarde?) und hat eine seit vierzehn Jahren gemächlich, aber stetig steigende Karriere hinter sich. Sie sah ihn anfangs als Bürobote und nun als Juniortexter im britischen »Zentralen Informationsbüro«, wo er Merkblätter zur öffentlichen Gesundheit und Sicherheit verfasst. Diesen willfährigen, unscheinbaren Mann (»ein stiller Mensch«), schickt Jonathan Coe auf glattes Parkett.

Thomas Foley wird »unser Mann in Brüssel«. Als Sohn eines britischen Gastwirts und einer Belgierin (die das Land freilich schon als Kind verlassen hatte) ist er prädestiniert für diese Aufgabe, finden die Herren des Planungskomitees Expo im Foreign Office. Schwieriger gestaltet sich die Definition des »typisch Briti­schen«, das der Welt vorgeführt werden sollte. James Gardner hatte den modernen Regierungspavillon entworfen, der Britanniens vielfältige Geschichte und Traditionen mit der Zukunft verknüpfen würde; da­neben errichtete die Privatwirtschaft einen Industriepavillon, von dem sie sich »möglichst viele lukrative Ge­schäf­te« erhoffte. Zwischen dem »kulturellen und historischen Schaufenster« und dem der »Nation von Krämern« sollte »ein uriges altes Wirtshaus, so britisch wie ... Bowlerhut und Fisch und Chips« den Natio­nalcharakter repräsentieren, mit Thomas Foley in geschäftsführender Funktion. Doch dann gilt es, nicht zu rückwärtsgewandt aufzutreten, und gemäß der britischen Fähigkeit, »vorneweg zu marschieren, ohne un­se­re Vergangenheit hinter uns zu lassen«, verpasst man dem Pub »The Britannia« schließlich das lichte Am­biente eines zeitgemäßen Jachtclubs.

In Brüssel bezieht Thomas eine auf geringste Ansprüche reduzierte Kabine in einer Art Motel-Con­tai­ner-Dorf. Überdies muss er die winzige Behausung mit einem Landsmann teilen: Tony Buttress, wis­sen­schaft­l­i­cher Berater des britischen Pavillons und als solcher zuständig für die ZETA-Maschine, den Heiligen Gral der Wissenschaft, die Speerspitze britischer Technologie auf dem Weg zur Kernfusion, die die Ener­gieprobleme der Menschheit lösen wird. Natürlich unterliegt alles höchster Geheimhaltung und wird nur als Replik ausgestellt. Doch von all dem hat der geistig nicht allzu bewegliche Foley ohnehin keinen blas­sen Schimmer.

Da ist es kein Wunder, dass ihm diverse Begebenheiten, in die er gänzlich unbedarft hineinschliddert, mys­teriös erscheinen. Bereits vor seinem Amtsantritt in Brüssel schleppen ihn drei Männer in ein Café und hor­chen ihn aus, ob er »Mitglied der Kommunistischen Partei« sei und was er »von dem Zirkus da drüben in Belgien« halte. Schon »dieses Gespräch hat natürlich nie stattgefunden«, und auch hinfort werden sich die allwissenden Herren mit Schlapphut die meiste Zeit fein im Hintergrund halten, doch Foley immer wieder zu nervtötenden Unzeiten heimsuchen, ihn gar entführen lassen, um ihn auf die wichtigste Aufgabe seines Lebens vorzubereiten.

Es handelt sich um eine »Art Notintervention« auf dem Tummelplatz der Agentinnen und Agenten. Überall auf dem Expo-Gelände – im Pub, auf Partys und Empfängen – ist Foley von Leuten umgeben, deren Iden­tität und Treiben der Leser zwar ahnt, doch mitnichten Foley. So schaut Mr Chersky, russischer Journalist und Redakteur der Zeitung »Sputnik«, allzu gern im »Britannia« vorbei, um »Salt'n'Shake«-Chips zu knab­bern und mit Foley zu plaudern, der, vom sympathischsten Lächeln bezaubert, arglos Dinge ausplappert, die besser unter Verschluss bleiben sollten. Mr Chersky umgarnt im Pub allerdings ebenso charmant die umwerfend schöne Emily aus Wisconsin. Die hoovert im US-Pavillon unentwegt Berge von Staub weg, um der neidischen Welt vor Augen zu führen, wie moderne Geräte die amerikanische Hausfrau in paradiesi­sche Zustände entheben. Auch Kabinengenosse Tony Buttress kann sich Emilys Reizen nicht verschließen.

Thomas, verheiratet mit Sylvia (unpolitisch) und Vater des gemeinsamen Töchterchens Baby Gill, umflat­tern zarte Liebesbande schon bei seiner Ankunft am Flughafen Brüssel, als er erstmals der Hostess An­ne­ke gewahr wird. Der strenge Verhaltenskodex für die mehrsprachig ausgebildeten wichtigsten Bot­schaf­te­rin­nen der Weltausstellung kann die ehrliche Zuneigung zwischen den beiden nicht verhindern. Die Bezie­hung wird weit über die Ausstellungszeit hinaus währen und für Foley ein melodramatisches Ende nehmen.

Bei Ian Fleming liest der arme Thomas Foley, wie gnadenlos brutal die sowjetischen Machthaber sind, und ist danach überzeugt, dass er seine Pflicht für Königin und Vaterland erfüllen und gegen das Böse antreten muss. Ein bisschen gebauchpinselt ist er allerdings auch, dass er als Köder in einer Liebesintrige den ro­mantischen Helden spielen soll. Seine Romanze mit Anneke muss dazu ein wenig hintanstehen, doch wird er ihr das mit den richtigen Worten erklären können, so wie er auch der zu Hause verbliebenen Sylvia das eine oder andere als »Liebesgrüße aus Brüssel« kommuniziert.

Insgesamt ist dieser Anti-Spionagethriller eine harmlose, eher seichte, aber durchaus amüsante Lektüre, die ihren Reiz dem trocken-süffisanten Stil und der skurrilen Inszenierung damaliger Realität und Mentalität verdankt. Zwei der zahlreichen karikaturhaften Spitzen sind die Unterredungen des britischen Architekten Gardner mit Sir John vom Außenministerium, im Eingangsbereich des Pavillons als »Britanniens Beitrag zur Entsorgung menschlicher Exkremente« einen Abort einzubauen, und die Beschreibung der belgischen Ausstellungssektion zu den Kolonien Kongo und Ruanda-Urundi, in der ein paar »leibhaftige Neger« in ei­nem authentischen Eingeborenendorf einquartiert wurden. Hiervon ist selbst Thomas peinlich berührt, und tatsächlich verließen die Afrikaner die Expo vorzeitig, nachdem Besucher sie wie Zootiere mit Bananen ge­füt­tert hatten.


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