Perfekter Gefährte
Als Reisen noch nicht den Einkauf einer standardisierten Ware von einklagbarer Qualität, sondern den kühnen Ausgang des Individuums aus der Naivität seiner lokalen Beschränktheit bedeutete, war die Konfrontation mit dem Unbekannten geradezu sinnstiftend. Reisend lernte man nicht nur andere Weltgegenden kennen, sondern auch, sich selbst darin ohne Leitung eines anderen zu bewähren (Scheitern nicht ausgeschlossen). Ungewohntes erforderte erst einmal Verstehen, nicht gleich »Bewerten«. Schon seit den Anfängen des »Tourismus« vermittelten Reiseführer und prominente Reiseberichte gedruckte Impressionen, mussten jedoch schon hardware-bedingt Lücken lassen und weckten gerade dadurch Neugier und die Lust, sich auf das Abenteuer, die Leerstellen zu sondieren, einzulassen.
Im Tourismus der großen Zahlen und der Rundumbetreuung ist faltenfreies Reisen erwünscht (und gelingt doch nicht immer, wie die Kritikasterei im Internet vermuten lässt). Als ›Info‹ über Land und Leute draußen vor dem Hotelzaun genügt vielen das Heftchen, das, gratis dem All-inclusive-Voucherstapel beigefügt, das Elementarste zusammenfasst.
Erfreulicherweise gibt es jedoch noch eine Menge Ziele in Europa, die individuell erkundet werden müssen, und Touristen, die die Planung und das Reisen selbst als süße Mühe empfinden. Die treffen mit den sieben Vulkaninselchen vor Siziliens Nordküste eine gute Wahl. Wie kann ihnen Thomas Schröders Handbuch »Liparische Inseln« dienen – und was kann es nicht bieten? Wir haben es ausprobiert und stellen Ihnen unsere eigenen Erfahrungen auf den Inseln vor.
Ein guter Reiseführer transportiert nicht nur Informationen, sondern versetzt den Leser hinein in die Zielwelt. Vor der Reise gelesen, regt er den Appetit an, verschafft Überblick, pegelt Erwartungen auf realistischem Niveau ein und erlaubt schließlich eine sachkundige Planung. Während der Fahrt aufgeschlagen, muss das Buch zuverlässig Wissen vermitteln, und das möglichst vielfältig, je nach Laune des Lesers (mal genügt eine grobe Orientierung, mal will man jedes Detail erfahren, jeden Zusammenhang erläutert bekommen, dazu Fotos und Pläne studieren). Als ästhetisches Sahnehäubchen schätzen wir obendrein stilistische Sorgfalt und Varianz.
Um es gleich vorwegzunehmen: All diese Erwartungen erfüllt Thomas Schröders Buch mustergültig. Wir können guten Gewissens empfehlen, dieses Standardwerk schon lange vor Beginn der Planungen zu durchstöbern, denn es steckt voller nützlicher Hinweise und profilierter Beschreibungen, um damit einen den individuellen Vorlieben Rechnung tragenden Reiseverlauf zurechtzuschneidern.
Als erstes verwundert freilich, wie dick das Buch ist. Üblicherweise werden die kargen, an Kulturgütern armen Eilande Sizilien-Führern eingegliedert und auf einem Dutzend Seiten abgehandelt. Und nun 265 Seiten für eine Zwergregion von ca. 116 qkm Landfläche mit um die 14.000 Einwohnern? (Zum Vergleich: 660 Seiten hat Thomas Schröders Reiseführer über ganz Sizilien mit über 25.000 qkm und fast fünf Millionen Einwohnern.) Wird uns viel Lärm um nichts verkauft?
Keineswegs. Die ersten einhundert Seiten dienen der Einführung nach übergreifenden Themen, die sachkundig und erschöpfend abgehandelt werden (Geologie, Geschichte, Wirtschaft, Anreise, Küche, Wissenswertes ...). Je vier bis sechs Seiten darin sind praxisnah den Durchreisestationen Neapel, Messina, Catania, Palermo und Milazzo gewidmet – Karten, Unterkünfte, Lokale, Verkehrsanbindung. 140 Seiten nehmen die Einzeldarstellungen der Inseln ein, den Rest ein Minisprachführer und das Register.
Wie heutzutage üblich (und sinnvoll), wirkt so ein moderner Reiseführer beim Durchblättern wie eine Zeitschrift. Kaum eine Seite ohne bunt abgesetzte Kästchen, kaum ein Text, der mehr als ein, zwei Seiten umfasst, unterschiedliche Schriften, dazwischen Tabellen, Bilder, Karten ... Das lebhafte Layout macht indes nur die Vielfalt der (oben umrissenen) Nutzungswünsche augenfällig. Alles vertiefende Wissen ist in separate, nett und anekdotenreich formulierte Abhandlungen ausgegliedert, die sich so interessanten Themen wie dem Obsidian, dem Erzherzog Ludwig Salvator, den Kapern, dem Heiligen Bartholomäus, der Architektur, der Mafia, dem Bimssteinabbau, dem Umweltschutz widmen ... – so kompetent, ausführlich und detailreich, dass man nach der Lektüre wissenssatt ist, so kompakt und unterhaltsam, dass das Lesen Spaß macht.
Des Autors Vertrautheit mit der Region ist beeindruckend; schier unglaublich, was wir hier an Kenntnissen zusammengetragen finden. Beispiele für überraschende Detailangaben nennen zu wollen wäre ein uferloses Unterfangen, jede Seite ist voll davon, und wir profitieren auf Schritt und Tritt: wenn Schröder uns Saal für Saal durch das Museo archeologico in Lipari führt, wenn er sehr konkrete und nützliche Ratschläge einflicht, die Freude bringen oder Ärger vermeiden können (»Auch wenn Scirocco vorhergesagt ist, denkt kaum eine Agentur [für Schiffsausflüge] daran, deswegen auf den Kartenverkauf zu verzichten, ebensowenig aber auch an eine Rückerstattung«, wenn die Fahrt nicht stattfinden kann.).
So ein Kompendium ist über Jahre gewachsen; es liegt jetzt in der sechsten, komplett überarbeiteten und aktualisierten Auflage von 2013 vor. Obwohl vor zwei Jahren recherchiert, sind die genannten Preisniveaus (für Fähren, Essen und Hotels) immer noch realistisch, und die Einschätzungen zu Qualitäts- und Preisentwicklungen bei Restaurants fanden wir vielerorts zutreffend. Man kann Schröders Urteil trauen.
Im Gegensatz zu den gigantischen Internetportalen ist und bleibt ein Reiseführer ein persönliches Statement. Ein guter Autor bezieht sachkundig Stellung. Beim Lesen lernen wir sein Profil, seine Maßstäbe kennen und mit unseren zu koordinieren. Er entwickelt sich zu einem vertrauten Gefährten, dessen Ansichten wir teils schätzen, teils kritisch sehen, aber immer gern hören. (Thomas Schröders fünf Wandervorschläge etwa sind nichts für uns, wir freuten uns aber, die Routen gemütlich ›erlesen‹ zu können ...)
Insofern sind die prägnanten Hotel- und Restaurantbeschreibungen des Buches durch Tripadvisor und Konsorten keineswegs hinfällig geworden. Zunächst einmal stellt er eine Menge an Unterkünften, Restaurants usw. vor, die bei den Portalen aus statistischen Gründen untergehen (nicht erfasst, zu selten oder zufälligerweise zu schlecht bewertet ...). Sodann mitteln die Bewertungen im Internet Tausende Klicks und suggerieren damit Allgemeingültigkeit; tatsächlich bügeln sie den individuellen Geschmack weg. Der kommt zwar in manchen Kommentaren zum Ausdruck, doch ist es unserer? Thomas Schröders meist wohlwollende Charakteristiken weiß man dagegen bald zu nehmen, je mehr man davon gelesen hat, und erst der persönliche Filter macht sie richtig hilfreich: Vielleicht mag man genau das, was er leicht ironisch abhandelt, und schätzt nicht so, was er liebt. Vor der endgültigen Entscheidung wird dann wohl ohnehin jeder das Internet konsultieren.
Es sind nur Kleinigkeiten, die wir in diesem Buch unbefriedigend fanden, darunter vor allem das Register, das schnelleren und gezielteren Zugang zu einem gesuchten Detail ermöglichen sollte als das ausführliche Inhaltsverzeichnis, aber noch stark ausbaufähig ist. Es enthält zum Beispiel das wohl selten benötigte Stichwort »pentiti«, nicht aber »Aliscafi«, »Fähren«, »Siremar/Ustica«. Unter »Anreise« (per Bus/Pkw/Flugzeug/Zug) gibt es keinen Verweis auf die Fährverbindungen; die Verweisstelle für »Linienschiffe« nennt nur Unterschiede in der Bauart der Schiffe, »Busse« führt zu ein paar Sätzen zum ÖPNV auf den Inseln, aber nicht zum Service der Firma Giunta, der wichtigsten Verbindung zwischen Catania und Milazzo. Dabei stellt das Buch die gesuchten Informationen durchaus bereit – nur wo, wenn man's schnell mal braucht?
Auch die (leider spärlichen) Auskünfte zu Lesestoff von den Inseln bzw. über sie sind so über die Kapitel verstreut, dass man sie nicht einfach herausfiltern kann. (Hier hilft Bücher Rezensionen weiter – mit Lesetipps aus und über ganz Sizilien und zu den Liparischen Inseln im Besonderen ...)
Abschließend sei auf drei moderne Addons hingewiesen, die der Verlag dem Nutzer seiner Bücher anbietet:
• Auf der Update-Seite zum Buch findet man Aktualisierungen zu dessen Angaben, teils durch den Autor, teils auf Grund von Leserzuschriften.
• Das gesamte Kartenmaterial des vorliegenden Reiseführers kann man für den eBook-Reader herunterladen. Das funktioniert sehr einfach über einen Download-Link, den man auf einer Verlags-Webseite anfordern kann. Allerdings erhält man damit nur eine PDF-Datei (23 Seiten, ca. 7 MB), die sich im eBook-Reader ziemlich sperrig verhält. Besser und flotter navigiert man im PDF-Dokument auf Smartphone, Tablet o.ä. – oder man schaut gleich ins gute alte Druckwerk ...
• Des weiteren hat der Verlag ein nach Zielregionen gegliedertes Reise-Forum eingerichtet, wo man Fragen stellen und Erfahrungen austauschen kann – sehr nützlich und gut gepflegt!