Mord und Mathematik
»Mich wirst du nie los«, prophezeit Shinji Togashi seiner Ex-Frau Yasuko. Er irrt, denn schon wenige Minuten später ist er tot.
Um den gewalttätigen Schuft abzuschütteln, hat Yasuko schon mehrmals Wohnung und Job gewechselt. Jetzt verkauft sie Mitnahme-Menüs in einem »Benten-tei«-Imbissladen und wähnt sich vor Togashi in Sicherheit. Da klingelt er eines Abends an ihrer Tür. Er habe einen neuen Arbeitsplatz in Aussicht, habe sich verändert. Dann kommt er zur Sache: Er brauche Yasukos Geld. Als Misato, ihre halbwüchsige Tochter, die Wohnung betritt, platzt sie mitten in den lautstarken Streit zwischen ihren Eltern. Ehe Togashi sich mit der Barschaft aus dem Staub machen kann, trifft ihn ein schwerer Gegenstand am Schädel, und er sinkt zu Boden. Noch einmal kann er sich aufrappeln, um Misato, die den Schlag geführt hatte, zu verwünschen und zu bedrohen, doch dann schlingt Yasuko ein Kabel um seinen Hals und zieht mit aller Kraft zu.
Da klopft es an der Wohnungstür. Nachbar Ishigami hat den Lärm gehört und will nach dem Rechten sehen. Der unscheinbare Mann begegnet Yasuko ab und zu im Treppenhaus und holt regelmäßig sein Mittagessen im Benten. Zunächst lässt er sich noch abwimmeln, aber wenig später meldet er sich am Telefon und bietet konkrete Hilfe an: »Es ist sehr schwer, eine menschliche Leiche verschwinden zu lassen.«
Yasuko ist aufgewühlt; sollte sie sich nicht der Polizei stellen und alle Schuld auf sich nehmen, um Tochter Misato zu schützen? Doch Ishigami räsoniert kühl. Der Mathematiklehrer sammelt erst einmal Informationen, dann schafft er die Leiche in seine Wohnung. »Mit logischem Denken werden wir alles heil überstehen«, beruhigt er Yasuko. Mutter und Tochter sollen ganz entspannt ihren Alltag wieder aufnehmen; er wird ihnen ein wasserdichtes Alibi verschaffen.
Was mag einen wildfremden Mann motivieren, dass er sich in die Gefahr bringt, ins Fadenkreuz polizeilicher Mordermittlungen zu geraten? Es ist die Liebe, und Yasuko ahnt nichts davon.
Nach dem verzweifelten Mord als Auftakt verläuft der Krimi in ruhigeren, intellektuell reizvollen Bahnen. Als man an einer Uferböschung in der Nähe der Stadtautobahn eine Leiche findet, führt deren Identität die Ermittler rasch zu Yasuko. Und tatsächlich beißen sie sich an deren wasserdichten Alibi die Zähne aus. Nur einer ahnt, dass irgendetwas nicht stimmt: Es ist Manabu Yukawa, Professor der Physik an der Kaiserlichen Universität, der der Polizei in schwierigen Fällen beratend zur Seite steht.
Yukawa kennt Ishigami aus Studienzeiten und hegt größten Respekt für ihn; ein Mathematik-Genie wie ihn gebe es »nur alle 50 oder sogar 100 Jahre«. Dass der Mann nun in einen Mordfall verwickelt ist, interessiert Yukawa und berührt ihn ganz persönlich.
So begegnen die beiden einander wieder, zum ersten Mal nach zwei Jahrzehnten. Yukawa bedauert, dass der geachtete Mathematiker sein Talent an dumme, lernunwillige Oberschüler vergeudet. Wie stark Ishigami an seiner sinnlosen Sisyphosarbeit leidet, lässt er freilich nicht erkennen – er ist »ein Mann, dem man nicht ins Herz schauen kann«.
Yukawa und Ishigami sitzen einander auf Augenhöhe gegenüber. Sie sind Gleichgesinnte, gewohnt, die Welt durch Theorien von objektiver Gültigkeit zu erklären. Allerdings unterscheiden sie sich in ihren methodischen Ansätzen. Der Mathematiker reiht Formeln aneinander und konstruiert Simulationen, der Physiker bevorzugt das Experiment und seine naturwissenschaftliche Beobachtung, um zu verstehen, was er noch nicht erklären kann. Wo es nun um »Mathematik und Mord« geht, stellt Yukawa seinem Gegenüber die erste Aufgabe: »Was ist schwieriger: Ein unlösbares Problem zu schaffen oder es zu lösen?«
Im Gegensatz zu seinen »blinden« Schülern versteht Yukawa die Prüfungsaufgaben, die Ishigami stellt. Sie wären im Grunde gar nicht so schwer, würde sich Ishigami nicht gern »den toten Winkel zunutze« machen, indem er etwa eine geometrische Problematik präsentiert, »doch in Wirklichkeit erfordert sie eine algebraische Lösung«. Yukawa durchschaut seinen Kontrahenten, aber die richtigen Antworten zu finden ist immer noch Aufgabe der Polizeiermittler, denen er unterstützend auf die Sprünge hilft.
Wenngleich wir Leser eigentlich alles über Mord, Täter und fingierte Alibis erfahren, so gehen wir dem Autor Keigo Higashino doch unweigerlich auf den Leim. Souverän beherrscht er die Kunst der Ablenkung, ebenso wie der raffinierte Ishigami die Ermittler listig zu täuschen weiß: »Jede Spur, die sie entdecken, ist in Wirklichkeit keine.«
Mit »Verdächtige Geliebte« hat Keigo Higashino einen genial konzipierten und perfekt ausgeführten Kriminalroman geschaffen (Ursula Gräfe hat ihn übersetzt). Im Räderwerk dieses wahren Kopfkrimis harmoniert jedes Teilchen wie geschmiert mit allen anderen, und von Etappe zu Etappe gewinnt die intelligente Maschinerie an Fahrt. Immer wieder wird das Alibi von Mutter und Tochter erneut hinterfragt, von allen Seiten durchleuchtet, mit mehrfachen Zeugenbefragungen abgeglichen, bis die Geduld der Ermittler (und des Lesers) schon über Gebühr strapaziert scheint. Doch mit jedem Mal gerät ein weiteres winziges Detail in den Fokus, tritt unerwartet hinzu, verändert sich – und fordert Ishigami zu neuen Maßnahmen heraus: Aktion – Reaktion. Der streng rational und taktisch geschickt agierende Logiker und Mathematiker ist drauf und dran, die spontane Bluttat der beiden Frauen zu einem perfekten (ungesühnten) Mord umzukonstruieren. Alles durchdenkt und antizipiert Ishigami, auf alles ist er vorbereitet – und scheitert an dem, was sich der Logik, der Mathematik, der Physik, jeder Simulation und jedem Experiment entzieht. Dass er diesen Faktor außer Acht gelassen hat, reißt ihm »die Seele aus dem Leib«.