Ein Lesefeuerwerk!
Was für einen abgedrehten Romanerstling hat der 1969 geborene irische Journalist und Kurzgeschichtenautor Kevin Barry da 2011 vorgelegt! Er begeisterte die Kritiker, die zum Vergleich Anthony Burgess’ Klassiker »A Clockwork Orange« (1962) herbeizitierten, und räumte etliche Preise ab, zum Beispiel den hochdotierten International IMPAC Dublin Literary Award 2013, so dass selbst Koryphäen wie Haruki Murakami und Michel Houellebecq, die ebenfalls im Rennen waren, das Nachsehen hatten.
Dabei ist der Plot recht simpel und nicht einmal besonders originell. In einer (fiktiven) westirischen Großstadt namens Bohane (Aussprache laut Autor: Bo’hahn), die ihre guten rechtsstaatlichen Zeiten längst hinter sich hat, sorgen Gangsterclans seit Jahrzehnten für Ordnung, wie sie sie sehen. Gewalt, Kriminalität und Rivalitäten zwischen den Banden dominieren das Alltagsleben. Der starke Mann der Stadt ist Logan Hartnett, ein eitler Emporkömmling aus den Slums von Smoketown, der vor fünfundzwanzig Jahren seinen Widersacher Gant Broderick nachhaltig in die Flucht schlug. Obwohl Logan sich auf die Schlag-, Schlitz- und Stechkraft seiner Jungs aus der Hartnett-Fancy-Gang verlassen kann, gibt es in solchen Kreisen niemals Sicherheit. Jetzt droht Gant Broderick zurückzukehren, um Logan, inzwischen fünfzig, also ziemlich alt fürs Metier, zu stürzen. Natürlich erweitert eine Frau die Männerfeindschaft zum Dreiecksspiel: Immaculata (»Macu«) ist Logans Ehegattin und Gants ehemalige Geliebte. Und natürlich tummeln sich im Dunkel der Stadt Bohane noch weitere düstere Gestalten, die mitmischen möchten bei der Frage, wer hier in der Zukunft das Sagen hat.
Mit diesem Konzept gestaltet Kevin Barry ein Opus, in dem er unvereinbare Genres munter verquirlt – Western, Trash, Mafia-Epos, Komödie, Satire, Dystopie, Märchen und klassische Heldensage. Ganz zu dieser Show passend sind die Figuren als Typen angelegt – und kein Klischee wird ausgelassen. Gebannt und schmunzelnd weiterlesend, tanzt man ständig auf Messers Schneide: Pathos oder Parodie?
Am kreativsten springt der Autor mit der Gattung der Dystopie um. Deren eigentlich politischer Kern – der Entwurf einer abschreckenden zukünftigen Gesellschaft, um vor den Folgen von Missständen unserer Gegenwart zu warnen – interessiert ihn, wie der Plot nahelegt, weniger. Im (höchst aufschlussreichen) Nachwort erfahren wir, dass Barry zwar »eine massiv gestörte Stadt … mit all ihren Lagen und Schichten, von ganz oben bis ganz unten« ins Leben rufen wollte, aber am Herzen lag ihm wohl hauptsächlich der Effekt ihrer kuriosen Ausstattung, denn er wollte eine »Retro-Zukunft« erschaffen. Deshalb gibt es in seiner Welt des Jahres 2053 keine Handys, keine Computer, kein Fernsehen, keine Autos, und die Gangster haben keine Schusswaffen, um ihren Anliegen Nachdruck zu verleihen, sondern Schlächtermesser. Um von A nach B zu gelangen, springt man in den »El-Train«, eine kreischende alte Tram- oder Hochbahn. Nachrichten erfährt man durch die tagesaktuelle Berichterstattung im »Bohane Vorkämpfer«, der einzigen Zeitung, erhältlich am Kiosk. Die Rundfunkanstalt »Freies Radio Bohane« strahlt schon morgens melancholische klassische Musik aus, die man mit jedem Transistorradio gut empfangen kann. Man findet in Plattenläden aber auch noch uralte »78er Calypso-Scheiben«. In seiner Freizeit liest der junge Nachwuchsgangster gerne Modejournale. Geheizt wird in Bohane übrigens mit Torf, das in den irischen Mooren gestochen wird.
Was »City of Bohane« zum wahren Knaller macht, ist seine fulminante sprachliche Gestaltung, ein atemberaubendes ästhetisches Feuerwerk, das seinesgleichen sucht. So ein übermütiges, pralles Erzählen in wilden Vergleichen, furiosen Metaphern, subjektlos hingeworfenen Sätzen, galoppierenden Reihungen, so ein innovatives Gespinst aus irischen Dialekten, altmodischen Floskeln, derben Dreistigkeiten, poetischen Miniaturen, verschluckten Silben, kindersprachlichen Doppelungen, dem spaßigen Spiel mit Klängen und Bedeutungen hat man lange nicht gelesen.
Das Idiom, das die Figuren in den Dialogen kultivieren, ist nicht unähnlich stilisiert, aber nicht so konsequent durchkonstruiert und kein Ideologieträger wie Nadsat, die Kunstsprache der Jugendlichen in »A Clockwork Orange«. Es teilt aber – neben intelligentem Unterhalten – zwei andere Funktionen mit Nadsat: Es schafft Distanz zur dystopischen Zivilisation und erspart dem Roman das rasche Altern, das unvermeidbar wäre, hätte der Autor einfach den gerade aktuellen Slang eingesetzt.
Wie bei »A Clockwork Orange« stellt sich freilich das Problem, wie man so ein sprachliches Kuddelmuddel aus Neologismen, nie dagewesenen Kollokationen, stilistischen Eskapaden und subtilen Zwischentönen in eine Fremdsprache übertragen soll. Damit musste sich der großartige Übersetzer Bernhard Robben herumschlagen. Er hat zwar schon Philip Roth, Salman Rushdie, Vikas Swarup und andere gemeistert, aber bei Kevin Barry hat er sich selbst übertroffen. In seinen »Nachbemerkungen des Übersetzers« erläutert er, welche Schwierigkeiten er überwinden musste, und begründet, welche Wege er gewählt hat.
Dieser Roman, so verrät sein selbstbewusster Autor im programmatischen Teil des Nachworts, sei »für all jene geschrieben, die ein Buch aufschlagen und eine grellbunte, vergnügte Zeit verbringen wollen, dabei ist der Stil durchaus anspruchsvoll«. Um die genialen Leistungen des Schriftstellers und seines nicht minder herausragenden Übersetzers zu würdigen und Ihnen etwas vom ungewöhnlichen ›Lesegefühl‹ dieses Buches zu vermitteln, habe ich hier ein paar Personenbeschreibungen in Übersetzung und Original zusammengestellt. (Klicken Sie auf die Links, um die englischen Originaltexte ein-/auszublenden.)
Albino nannten ihn die einen, andere nur Bino, den Langen Lulatsch oder schlicht Mr Aitsch, ihn, den Boss der Hartnett Fancy.
Er kehrte den Docks den Rücken, wandte sich der Back Trace zu, der berüchtigten Bohane Trace, einem echt üblen Labyrinth, einem undurchdringlichen Gassengewirr. Er hatte diesen gewissen Back-Trace-Flair: ein flotter Pfau in feschem Crombie und blassgrauer Mafiosokluft aus Mohair, der Mantel lässig über die Schulter geworfen. Eine Gusche mit Beißern wie geschändete Grabsteine, aber was soll’s, wir tragen alle unser Kreuz. Ein Paar handgemachte portugiesische Stiefel schlappte übers Pflaster und tönte mit Nachdruck von Zaster.
Hart erkämpfter Reichtum – hach, was man sich in Bohane doch für Geschichten über Logan Hartnett erzählte.
Wie Stoßseufzer öffneten sich in der Trace unversehens kleine, klamme Plätze, die Logan querte. Tief in ihrem Innern lungerten zu dieser frühen Morgenstunde seltsame Vögel. Sie senkten den Blick, wenn er vorüberging, stierten auf ihre Zehen oder die braun vertütete Vinobuddel – wenn irgend möglich mied man, den Langen anzusehen. Schon seltsam, wir hatten Schiss vor ihm, bildeten uns aber auch was auf ihn ein. Er machte eine gute Figur, wie man bei uns in Bohane sagt; elegant und kerzengerade, sah weder links noch rechts, nur geradeaus, die Schultern stocksteif wie ein General. So flanierte er ins arabische Gewirr von Gasse und Gosse, und durch die Seitenstraßen der Trace hörte man es Schlappen und Knarren, Schlappen und Knarren, portugiesisches Leder auf zwielichtigem Stein.
Tja, Logan war in seinem Element, wie er sich da seinen Weg durch den städtischen Irrgarten suchte. Er fürchtete keine Schatten, kannte die Gegend aus dem Effeff, kannte den kleinsten Winkel und das letzte Loch. English
He cut off from the dockside and walked on into the Back Trace, the infamous Bohane Trace, a most evil labyrinth, an unknowable web of streets. He had that Back Trace look to him: a dapper buck in a natty-boy Crombie, the Crombie draped all casual-like over the shoulders of a pale grey Eyetie suit, mohair. Mouth of teeth on him like a vandalised graveyard but we all have our crosses. It was a pair of hand-stitched Portuguese boots that slapped his footfall, and the stress that fell, the emphasis, was money.
Hard-got the riches – oh the stories that we told out in Bohane about Logan Hartnett.
Dank little squares of the Trace opened out suddenly, like gasps, and Logan passed through. All sorts of quarehawks lingered Trace-deep in the small hours. They looked down as he passed, they examined their toes and their sacks of tawny wine – you wouldn’t make eye contact with the Long Fella if you could help it. Strange, but we had a fear of him and a pride in him, both. He had a fine hold of himself, as we say in Bohane. He was graceful and erect and he looked neither left nor right but straight out ahead always, with the shoulders thrown back, like a general. He walked the Arab tangle of alleyways and wynds that make up the Trace and there was the slap, the lift, the slap, the lift of Portuguese leather on the backstreet stones.
Yes and Logan was in his element as he made progress through the labyrinth. He feared not the shadows, he knew the fibres of the place, he knew every last twist and lilt of it.
Jenni war gerade siebzehn geworden, für ihre Jahre aber ganz plietsch. Auf der Hut, das war sie auch, und ein scharfes kleines Luder mit Arschhängerhose, Keilabsätzen und ihrem zum Springbrunnen hochgeturbanten Streifenhaar. Sie fischte einen Zigarrenstumpen aus der Tittentasche ihres weißen Vinylhoodies, steckte ihn an.
»Auffer annern Seite der Brücke ist die Kacke am Dampfen, Mr Aitsch.«
»Weiß ich doch.«
»Wennse mich fragen, plustern sich die Cusacks aus Rache grad richtig in Rage, okay? Und das Letzte, was Smoketown brauch, issn Haufen dieser Loser, die von ihren Hochblocks zu uns runterbullern.«
»Bislang haben die Cusacks immer viel von einem guten Pow-Wow gehalten, Jenni.«
»Is nichs Pow-Wow, vor was ich Schiss hab, Mr Aitsch. Heißt, in letzter Zeit hätten sie vonnen Blocks drei Wohnsilos allein für sich untern Nagel gerissen, und das sind drei Hütten voll Wichser, die scharf auf Trouble sind, checkste?«
»Nur zu gut, Jenni.« English
»Get enough on me fuckin’ plate now ’cross the footbridge, Mr H.«
»I know that.«
»Cusacks gonna sulk up a welt o’vengeance by ’n’ by and if yer askin’ me, like? A rake o’ them tossers bullin’ down off the Rises is the las’ thing Smoketown need.«
»Cusacks are always great for the old talk, Jenni.«
»More’n talk’s what I gots a fear on, H. ls said they gots three flatblocks marked Cusack ’bove on the Rises this las’ while an’ that’s three flatblocks fulla headjobs with a grá on ’em for rowin’, y’check me?«
»All too well, Jenni.«
Tja, und hier kamen sie, all die dickarmigen Frauen und all die breitärschigen Typen. Hier kamen die triefäugigen Polacken ... die feschen Afrikanerinnen und die lang aufgeschossenen Holzköpfe, unsere torfgezeugten Polypen ... die angeschwemmten Gitanos plus den gestrandeten Madagassen ... English