Geschnitzte Weihnachtselefanten für Dresden
Familie Moscherosch feiert das ganze Jahr Weihnachten, könnte man glauben, wenn man sie in ihrem Dorf Kleinhainichen im tiefsten Erzgebirge aufsuchte. Fast immer ist jeder Winkel ihres Häuschens angefüllt mit niedlichen Tierfiguren aus Holz, mit denen man jetzt, zu Anfang des 19. Jahrhunderts, überall gern den Tannenbaum, die Krippe oder die gute Stube weihnachtlich schmückt.
Doch weit gefehlt. Die kleinen Kunstwerke sind im Haus Moscherosch keine Dekoration, sondern das karge tägliche Brot, denn die ganze Familie arbeitet jahraus, jahrein zusammen, um sie herzustellen. Gerade zum Christfest sollten alle Figürchen aus dem Haus, die gesamte Produktion gut verkauft sein. Ob sie auf solchermaßen gesegnete Feiertage hoffen dürfen, entscheidet sich, wenn im Dezember der Handelsagent eintrifft. Er will sämtliche Kisten mit dem sorgsam eingepackten fragilen Inhalt abnehmen, um sie auf dem Striezelmarkt in Dresden an einen Spielzeughändler weiterzuverkaufen. Leider ist der Mann gierig und ein Halsabschneider. Er versteht es, den Preis zu drücken, und da es in der abgelegenen Gegend keinen anderen Kaufinteressenten außer ihm gibt, hat er leichtes Spiel. So ist das wenige Geld, das die Moscheroschs für die Arbeit eines ganzen Jahres erlösen, kaum genug, um sie über Wasser zu halten. Die Armut verzehrt sie fast.
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Das Jahr, in dem Martin, der Älteste, fünfzehn Jahre alt wurde, war arbeitsreich wie jedes andere. Fichtenstämme lagern mehrere Monate im Mühlteich, damit das Holz weich und elastisch wird. Dann sägt Vater eine dicke zylindrische Scheibe von dem Stamm ab, entrindet sie und spannt sie hochkant in seine Drehbank ein. Jetzt beginnt seine erstaunliche alte Kunst, das »Reifendrehen«. Während sich die Scheibe rasend schnell dreht, drückt er seine scharfen Klingen – mal eine breite, mal eine halbrunde, mal eine ganz feine – mit höchster Konzentration und Fingerfertigkeit in das Holz, wodurch sowohl im Randbereich der Scheibe als auch an deren Außenfläche parallele bzw. konzentrische Rillen, Kerben, Stufen, Vertiefungen entstehen. Schließlich fräst er die innerste Mitte um die Achse der Drehbank herum fast ganz weg und löst den profilierten Kranz vom verbliebenen Rest der Scheibe. Erst wenn er diesen Ring, der einer modernen Auto-Stahlfelge mit Reifen ähnelt, an einer Stelle auftrennt und dann Scheibchen für Scheibchen abschneidet wie Kuchenstücke von einem Gugelhupf, wird erkennbar, wohin dieses raffinierte Verfahren zielt: Wie durch Zauberei sind Dutzende identischer Figürchen entstanden – Ochsen, Esel, Pferde, Gänse ... Noch ist jedes nur ein kantiges Profil, aber bald werden die geschickten Hände der ganzen Familie jeden Rohling einzeln bearbeiten, die Ecken runden, Beine, Hufe, Ohren, Mähnen, Gesichter schnitzen und bemalen, bis ein wunderschönes lebensechtes Schmuckstück fertig ist.
Ein ganz besonderes Jahr ist dies trotzdem. Die Moscheroschs haben ein neues, ausgefallenes Modell hergestellt, das hoffentlich viele Menschen zum Dekorieren, Spielen, Liebhaben und vor allem Kaufen einladen wird: einen kleinen Elefanten. Das imposante Vorbild haben die meisten – Martin eingeschlossen – noch nie lebend gesehen. Was dem Jungen aber noch viel wichtiger ist: Vater hat ihm versprochen, dass er den Agenten zum ersten Mal nach Dresden begleiten darf, um ihre Erzeugnisse dort abzuliefern.
Jetzt ist alles pünktlich fertiggestellt, doch das Glück, so bescheiden es war, scheint die Familie jetzt ganz zu verlassen. Kleinhainichen versinkt im Schnee, der Handelsagent lässt auf sich warten, kommt schließlich gar nicht. Martin drängt den Vater, dass er mit ihm nach Dresden gehen solle, um die Ware selbst zu verkaufen. Doch der winkt ab, ist unsicher und ängstlich. Aber als die Verzweiflung wächst, lässt er sich auf den Vorschlag ein, denn »alles ist besser, als hier aufs Verhungern zu warten«.
Leider »liegt kein Segen auf deinem Plan.« Welche Schläge das Schicksal noch für die arme Familie bereithält und was der freundliche, aber unbedarfte Junge schließlich in der großen Stadt erlebt, das erzählt Ralf Günther in diesem hübschen kleinen Büchlein. Wie die anderen Titel der Serie aus dem Kindler-Verlag (z.B. »Wie der Weihnachtsbaum in die Welt kam« [› Rezension] ist auch dieser liebevoll ausgestattet. Gern verweilt man, um die feinen farbenfrohen Zeichnungen von Andrea Offermann zu betrachten und dem nachzuhängen, was man (vor-) gelesen hat. Große Literatur wird hier niemand erwarten, aber der Autor formuliert sorgfältig und einfühlsam, ohne dass es rührselig und kitschig wird. Den historischen Hintergrund seiner Geschichte, die Fährnisse der einfachen, ärmlichen Erzgebirgler und ihres Kunstgewerbes vor zweihundert Jahren, hat er, wie er im Nachwort erklärt, gründlich recherchiert, ohne auf das Vergnügen zu verzichten, den Elefanten seiner Fantasie gelegentlich freien Lauf zu lassen ...
Wie es sich zum Christfest gehört, siegt zuletzt das Gute – aber natürlich will ich keinem Leser die Freude verderben, selbst mitzuerleben, wie sich das »Weihnachtsmarktwunder« vollzieht.