Rezension zu »Eine Art Bescherung« von Siegfried Lenz

Eine Art Bescherung

von


Weihnachtliches · Teil der Serie »Weihnachtliches« · Hoffmann und Campe · · Gebunden · 112 S. · ISBN 9783455405392
Sprache: de · Herkunft: de

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.
Bei Amazon kaufen

Nachkriegswinter – ganz unsentimental

Rezension vom 04.11.2015 · 4 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Die neun kleinen »Weihnachts- und Win­ter­ge­schichten«, die Hoff­mann und Campe unter dem Titel »Eine Art Bescherung« herausge­ge­ben hat, stammen von dem 2014 verstorbenen Schriftsteller Siegfried Lenz. Er ver­fasste sie zwischen 1951 und 1966, in der Zeit also, in der auch die Meis­ter­werke ent­standen, die sei­nen bis heute unge­brochenen Ruhm be­grün­deten und auch verfilmt wurden: »So zärtlich war Suleyken. Masu­rische Ge­schichten« (1955), »Der Mann im Strom« (1957), »Das Feuerschiff« (1960), »Deutsch­stunde« (1968).

Noch mehr Rezensionen schöner
Bücher und Musik-CDs für die Advents-
und Weihnachtszeit finden Sie hier.

Die Erzäh­lungen füh­ren uns zu­rück in eine sehr fremd erschei­nende Zeit – zu Men­schen, die gerade einen Welt­krieg über­lebt haben, zu heute aus­ran­gierten Formen des Miteinan­ders, auch zu teilweise exo­tisch an­muten­den Gebräuchen aus der Hei­mat des Au­tors, Ma­su­ren mit sei­nen dreitau­send Seen. Indem die Lek­türe längst Ver­gangenes (inklusive alter Recht­schrei­bung) und manch Bewah­rens­wertes zum Vor­schein bringt, stimmt sie nachdenklich über die al­ten und die neuen Zei­ten, doch zu­gleich heiter, denn was Sieg­fried Lenz im­mer auszeichnet, ist die hanse­a­tisch-nüch­terne Leich­tigkeit sei­nes Erzähltons, selbst wenn er erschüt­ternde Er­eignisse oder spannende Ver­wick­lun­gen ge­staltet.

Nostalgie mag in die­sen Ge­schichten nicht auf­kommen, auch nicht hei­melige Besinn­lich­keit. Sie spielen in der kältesten und dunkelsten Jah­reszeit. Schnee und Eis machen den fast aus­nahmslos bitter­armen Men­schen in ihren zugi­gen Unter­künften zu schaffen. Der Mangel an Klei­dung und Brenn­stoffen spitzt die Not zu, so dass die Angst zu er­frieren grö­ßer ist als die zu ver­hun­gern. Der Gedanke an eine weih­nachtliche Feier mit gutem Essen und Ge­schenken, wie man sie von frü­her in Erinne­rung hat, ist un­endlich fern. Man­cher ist froh, wenn er wenigstens am Heiligen Abend ein­mal seine Bleibe warm hat.

In »Baracken­feier« (von 1959) teilen sich sieben Familien die wenigen Räume einer Behelfsun­ter­kunft. »Wir hat­ten so viel zu tun, um satt zu werden, warm zu werden, daß wir uns um kein Datum küm­merten, und wir hät­ten auch nichts von Weih­nach­ten gemerkt.« Man geht zum Bahn­damm und hofft ein paar Koh­len auf­sammeln zu können, die von einer vorbei­fau­chenden Dampflok her­unter­fal­len. »Eine sehr gute Ein­richtung« ist der Schwarz­markt, wo man sich un­auffällig tummelt, um durch die be­wegten Zei­ten ge­rettete oder frisch orga­ni­sierte Schätze feil­zubieten und dafür Le­bens­not­wendiges einzutau­schen. Wenn wir heuti­gen Leser erfah­ren, auf welch schlichte Weise der Ich-Erzähler mit seiner Fami­lie den Weih­nachts­abend ver­bringt, sind wir un­aus­weich­lich beklommen und be­schämt. Schweigend sitzt man beieinan­der, verspeist den gerade er­gatterten »ge­schmor­ten, gla­sigen Speck« und staunt »über die uner­meßli­che Wohltat, die uns ge­schah«. Zur Feier des Tages darf der Kano­nen­ofen einmal so stark bollern und glü­hen, dass nach und nach alle ihre warmen Jacken und Pullover ab­legen, bis sie schließlich mit geröteten Ge­sichtern im Hemde dasitzen und die »erbeutete Wärme« ge­nie­ßen. Nichts könnte aller Wohlgefühl bes­ser zu­sammen­fassen als Mut­ters Drohung: »Daß sich kei­ner, ihr Lor­basse, unter­ste­hen mecht', das Fensterche auf­zuma­chen.«

Auch der Prota­gonist in »Budzereit wird überascht« (1951) lebt in einer Ba­racke. Früher Lager­raum für »gewinn­brin­gende Ware« des reichen Ge­schäftsmannes aus dem Haus gegen­über, steht sie seit fünf Jah­ren leer und bietet dem be­tagten Budzereit und anderen Obdach. Der Alte ver­bringt seine Tage da­mit, an der Ba­rackentür zu lehnen, »die Vorüber­ge­hen­den zu grüßen und ihnen nach­zublicken«. Ab und zu dreht sich ein Fremder verwundert um und winkt zu­rück. Wenn er dem Ei­gen­tümer seiner Be­hau­sung be­gegnet, zieht Budzereit demütig die Mütze. Doch der feine Herr erwi­dert den Gruß nicht. Ob er ihn wohl über­sieht? Oder fürch­tet er sich womög­lich insge­heim vor Alter, Armut und Krank­heit, die ihm Budze­reit allzu nah vor Augen führt? Wie die meis­ten Ge­schichten en­det auch diese mit ei­ner wun­der­samen über­raschenden Wendung ...

Aus etwas ande­rem Holz ge­schnitzt als die anderen, über­wiegend leicht melan­cholisch ge­stimmten Er­zäh­lungen ist »Die Schärfe der Kufe« (1965). Sie handelt von einem un­mittel­bar – nicht bloß virtuell – er­leb­ten Abenteuer einer Jugend noch ohne Mar­ken­wahn, ohne tech­nische Sta­tusobjekte und ohne überbe­sorgte Eltern, dafür mit prä­gen­den Natur­ein­drücken, echten Ge­fühlen und realer Ka­me­radschaft.

Der Ich-Er­zähler und sein Freund Rudi haben aus Holz, drei Schlitt­schuh-Ku­fen, einer Bam­busstange als Mast, einem Se­gel aus roter Lein­wand und Schnüren von alten Postsäcken einen Eis­se­gel-Schlitten ge­ba­stelt. Mit dem simplen, fe­der­leichten Kon­strukt, »eher eine Verheißung oder Mög­lich­keit als schon ein Verspre­chen«, geht es hinaus auf den weit­läu­figen zu­ge­frorenen See. Der zer­brechli­che Schlitten flitzt hals­breche­risch übers Eis, über tödlich dünne Stel­len hin­flie­gend, vom unge­duldi­gen, un­be­re­chen­ba­ren Wind voran-, hin- und her­ge­trieben, und die Jun­gen überlas­sen sich, an­ge­stachelt von grenzen­losem Wage­mut, gern seinen Ent­schei­dungen, können ihnen auch nichts entgegen­set­zen als eine schwächliche Steuer­kufe. Überheblich und über­mü­tig win­ken sie den Spa­zier­gängern längs der See­prome­nade und den Eis­blöcke aussägenden Brauerei­arbei­tern zu. Schon schießt ihr Schlitten wie eine Rakete in Richtung Ohles Fluß­badeanstalt, »das befes­tigte Ufer erwachte aus seiner Starr­heit und stürmte auf uns zu«. Wer behält die Ober­hand in dieser toll­kühnen Ran­gelei?

Wenn Sie weih­nacht­lich-winter­li­che Litera­tur mit An­spruch und Tiefgang su­chen, weitab von süß­li­chem Kitsch und mo­rali­schem Zeige­finger, nah an un­ver­klärten har­ten Rea­litä­ten und durchdrun­gen von warmer Mensch­lich­keit, dann ist dies das Richtige für Sie. Die an­spre­chende tra­ditio­nelle Gestaltung der in Leinen gebundenen Ausgabe passt gut zu der leicht altmodisch an­mutenden litera­rischen Meister­schaft des In­halts.


Weitere Artikel zu Büchern von Siegfried Lenz bei Bücher Rezensionen:

Rezension zu »Der Überläufer«

go

Weitere Artikel zu der Serie Weihnachtliches bei Bücher Rezensionen:

Rezension zu »24 x Charles Dickens für den Advent«

go

Rezension zu »Carl Tohrbergs Weihnachten«

go

Rezension zu »Das Geheimnis des Weihnachtspuddings«

go

Rezension zu »Das Mädchen, das Weihnachten rettete«

go

Rezension zu »Das Weihnachtsgeschenk und andere Weihnachtsgeschichten«

go

Rezension zu »Das Weihnachtsmarktwunder«

go

Rezension zu »Den Nächsten, der Frohe Weihnachten zu mir sagt, bringe ich um«

go

Rezension zu »Die großen romanischen Kirchen in Köln«

go

Rezension zu »Die Schneeschwester – Eine Weihnachtsgeschichte«

go

Rezension zu »Die Weihnachtsgeschwister«

go

Rezension zu »Diesmal schenken wir uns nichts: Geschichten für eine entspannte Weihnachtszeit«

go

Rezension zu »Frontal - Häuserfronten«

go

Rezension zu »Geheimnis in Rot«

go

Rezension zu »Geheimnis in Weiß«

go

Rezension zu »Gott baut um«

go

Rezension zu »Herzfaden: Roman der Augsburger Puppenkiste«

go

Rezension zu »Irgendwo ist immer jemand, der dich liebt«

go

Rezension zu »Italien um 1900. Ein Porträt in Farbe«

go

Rezension zu »Jul Morde«

go

Rezension zu »Maria, Mord und Mandelplätzchen«

go

Rezension zu »Mit dem Schnee kommt der Tod«

go

Rezension zu »Morgen, Klufti, wird’s was geben«

go

Rezension zu »Nikolausi«

go

Rezension zu »Plötzlich Bescherung und andere (un)weihnachtliche Geschichten«

go

Rezension zu »Schöne Bescherung – Hinterhältige Weihnachtsgeschichten«

go

Rezension zu »Schweig!«

go

Rezension zu »Sternstunde«

go

Rezension zu »Storie di Natale«

go

Rezension zu »Tatort Tannenbaum«

go

Rezension zu »Tödliche Weihnachten«

go

Rezension zu »Und Gott sprach: Du musst mir helfen!«

go

Rezension zu »Weihnachtsherzen«

go

Rezension zu »Weihnachtsmann - was nun?«

go

Rezension zu »Wie der Weihnachtsbaum in die Welt kam«

go

Rezension zu »Winterwind«

go

Rezension zu »Zwei Zebras in New York«

go

Rezension zu »Zwetschgermännla-Morde - 14 Kurzkrimis aus Franken zur Weihnachtszeit«

go

War dieser Artikel hilfreich für Sie?

Ja Nein

Hinweis zum Datenschutz:
Um Verfälschungen durch Mehrfach-Klicks und automatische Webcrawler zu verhindern, wird Ihr Klick nicht sofort berücksichtigt, sondern erst nach Freischaltung. Zu diesem Zweck speichern wir Ihre IP und Ihr Votum unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Ja« oder »Nein« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.

»Eine Art Bescherung« von Siegfried Lenz
erhalten Sie im örtlichen Buchhandel oder bei Amazon


Kommentare

Zu »Eine Art Bescherung« von Siegfried Lenz wurde noch kein Kommentar verfasst.

Schreiben Sie hier den ersten Kommentar:
Ihre E-Mail wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Ihre Homepage wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Hinweis zum Datenschutz:
Um Missbrauch (Spam, Hetze etc.) zu verhindern, speichern wir Ihre IP und Ihre obigen Eingaben, sobald Sie sie absenden. Sie erhalten dann umgehend eine E-Mail mit einem Freischaltlink, mit dem Sie Ihren Kommentar veröffentlichen.
Die Speicherung Ihrer Daten geschieht unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Senden« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.


Go to Top