
Nachkriegswinter – ganz unsentimental
Die neun kleinen »Weihnachts- und Wintergeschichten«, die Hoffmann und Campe unter dem Titel »Eine Art Bescherung« herausgegeben hat, stammen von dem 2014 verstorbenen Schriftsteller Siegfried Lenz. Er verfasste sie zwischen 1951 und 1966, in der Zeit also, in der auch die Meisterwerke entstanden, die seinen bis heute ungebrochenen Ruhm begründeten und auch verfilmt wurden: »So zärtlich war Suleyken. Masurische Geschichten« (1955), »Der Mann im Strom« (1957), »Das Feuerschiff« (1960), »Deutschstunde« (1968).
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Die Erzählungen führen uns zurück in eine sehr fremd erscheinende Zeit – zu Menschen, die gerade einen Weltkrieg überlebt haben, zu heute ausrangierten Formen des Miteinanders, auch zu teilweise exotisch anmutenden Gebräuchen aus der Heimat des Autors, Masuren mit seinen dreitausend Seen. Indem die Lektüre längst Vergangenes (inklusive alter Rechtschreibung) und manch Bewahrenswertes zum Vorschein bringt, stimmt sie nachdenklich über die alten und die neuen Zeiten, doch zugleich heiter, denn was Siegfried Lenz immer auszeichnet, ist die hanseatisch-nüchterne Leichtigkeit seines Erzähltons, selbst wenn er erschütternde Ereignisse oder spannende Verwicklungen gestaltet.
Nostalgie mag in diesen Geschichten nicht aufkommen, auch nicht heimelige Besinnlichkeit. Sie spielen in der kältesten und dunkelsten Jahreszeit. Schnee und Eis machen den fast ausnahmslos bitterarmen Menschen in ihren zugigen Unterkünften zu schaffen. Der Mangel an Kleidung und Brennstoffen spitzt die Not zu, so dass die Angst zu erfrieren größer ist als die zu verhungern. Der Gedanke an eine weihnachtliche Feier mit gutem Essen und Geschenken, wie man sie von früher in Erinnerung hat, ist unendlich fern. Mancher ist froh, wenn er wenigstens am Heiligen Abend einmal seine Bleibe warm hat.
In »Barackenfeier« (von 1959) teilen sich sieben Familien die wenigen Räume einer Behelfsunterkunft. »Wir hatten so viel zu tun, um satt zu werden, warm zu werden, daß wir uns um kein Datum kümmerten, und wir hätten auch nichts von Weihnachten gemerkt.« Man geht zum Bahndamm und hofft ein paar Kohlen aufsammeln zu können, die von einer vorbeifauchenden Dampflok herunterfallen. »Eine sehr gute Einrichtung« ist der Schwarzmarkt, wo man sich unauffällig tummelt, um durch die bewegten Zeiten gerettete oder frisch organisierte Schätze feilzubieten und dafür Lebensnotwendiges einzutauschen. Wenn wir heutigen Leser erfahren, auf welch schlichte Weise der Ich-Erzähler mit seiner Familie den Weihnachtsabend verbringt, sind wir unausweichlich beklommen und beschämt. Schweigend sitzt man beieinander, verspeist den gerade ergatterten »geschmorten, glasigen Speck« und staunt »über die unermeßliche Wohltat, die uns geschah«. Zur Feier des Tages darf der Kanonenofen einmal so stark bollern und glühen, dass nach und nach alle ihre warmen Jacken und Pullover ablegen, bis sie schließlich mit geröteten Gesichtern im Hemde dasitzen und die »erbeutete Wärme« genießen. Nichts könnte aller Wohlgefühl besser zusammenfassen als Mutters Drohung: »Daß sich keiner, ihr Lorbasse, unterstehen mecht', das Fensterche aufzumachen.«
Auch der Protagonist in »Budzereit wird überascht« (1951) lebt in einer Baracke. Früher Lagerraum für »gewinnbringende Ware« des reichen Geschäftsmannes aus dem Haus gegenüber, steht sie seit fünf Jahren leer und bietet dem betagten Budzereit und anderen Obdach. Der Alte verbringt seine Tage damit, an der Barackentür zu lehnen, »die Vorübergehenden zu grüßen und ihnen nachzublicken«. Ab und zu dreht sich ein Fremder verwundert um und winkt zurück. Wenn er dem Eigentümer seiner Behausung begegnet, zieht Budzereit demütig die Mütze. Doch der feine Herr erwidert den Gruß nicht. Ob er ihn wohl übersieht? Oder fürchtet er sich womöglich insgeheim vor Alter, Armut und Krankheit, die ihm Budzereit allzu nah vor Augen führt? Wie die meisten Geschichten endet auch diese mit einer wundersamen überraschenden Wendung ...
Aus etwas anderem Holz geschnitzt als die anderen, überwiegend leicht melancholisch gestimmten Erzählungen ist »Die Schärfe der Kufe« (1965). Sie handelt von einem unmittelbar – nicht bloß virtuell – erlebten Abenteuer einer Jugend noch ohne Markenwahn, ohne technische Statusobjekte und ohne überbesorgte Eltern, dafür mit prägenden Natureindrücken, echten Gefühlen und realer Kameradschaft.
Der Ich-Erzähler und sein Freund Rudi haben aus Holz, drei Schlittschuh-Kufen, einer Bambusstange als Mast, einem Segel aus roter Leinwand und Schnüren von alten Postsäcken einen Eissegel-Schlitten gebastelt. Mit dem simplen, federleichten Konstrukt, »eher eine Verheißung oder Möglichkeit als schon ein Versprechen«, geht es hinaus auf den weitläufigen zugefrorenen See. Der zerbrechliche Schlitten flitzt halsbrecherisch übers Eis, über tödlich dünne Stellen hinfliegend, vom ungeduldigen, unberechenbaren Wind voran-, hin- und hergetrieben, und die Jungen überlassen sich, angestachelt von grenzenlosem Wagemut, gern seinen Entscheidungen, können ihnen auch nichts entgegensetzen als eine schwächliche Steuerkufe. Überheblich und übermütig winken sie den Spaziergängern längs der Seepromenade und den Eisblöcke aussägenden Brauereiarbeitern zu. Schon schießt ihr Schlitten wie eine Rakete in Richtung Ohles Flußbadeanstalt, »das befestigte Ufer erwachte aus seiner Starrheit und stürmte auf uns zu«. Wer behält die Oberhand in dieser tollkühnen Rangelei?
Wenn Sie weihnachtlich-winterliche Literatur mit Anspruch und Tiefgang suchen, weitab von süßlichem Kitsch und moralischem Zeigefinger, nah an unverklärten harten Realitäten und durchdrungen von warmer Menschlichkeit, dann ist dies das Richtige für Sie. Die ansprechende traditionelle Gestaltung der in Leinen gebundenen Ausgabe passt gut zu der leicht altmodisch anmutenden literarischen Meisterschaft des Inhalts.