Lautloser Abschied ins Nichts
"Geh doch langsamer!" Mutters immer wiederkehrende Bitte verhallte abermals ungehört, und schon passierte das Peinliche. Vater, vorneweg, stieg in die U-Bahn am Hauptbahnhof von Seoul ein, ohne einen Blick nach hinten zu wenden, ohne sich zu vergewissern, dass Mutter auch im Abteil ist. Das war vor einem Monat, und alle Aktionen der Familie - Flugblätter verteilen, Zeitungsinserate und Internetauftritte schalten, Vermisstenanzeige bei der Polizei erstatten - sind ergebnislos verlaufen. Zwar haben sich ein paar Zeugen gemeldet, die die abgerissene, erschöpfte alte Dame mit blauen Plastiksandalen irgendwo beobachtet haben, aber alle Spuren verlaufen im Nichts. Im Übrigen ist man sich nicht einmal sicher, ob Mutter nicht beige Sandaletten getragen hatte ...
Noch immer ist sie verschwunden, und allen - den fünf erwachsenen Kindern, besonders aber Vater - wird plötzlich bewusst, dass sie sie vernachlässigt haben, dass sie für sie nicht mehr als eine Versorgungsmaschine ohne Eigenleben war. Was wissen sie von ihr? Hatte sie Träume, hatte sie Wünsche? Was sind sie ihr alle schuldig geblieben? Die Reue über verpasste Gelegenheiten packt alle Beteiligten viel zu spät. Nichts können sie mehr fragen, für nichts können sie sich entschuldigen, und nichts können sie als kleinen Dank zurückgeben.
"Als Mutter verschwand", 2011 mit dem Man Asian Literary Prize ausgezeichnet, ist eine liebevolle, einfühlsame Ehrbezeugung an alle Mütter, die sich aufopferungsvoll in den Dienst der gesamten Familie stellen.
Kyung-Sook Shins Roman führt uns nicht nur in eine andere Welt (das ländliche Korea), sondern auch in eine andere Zeit. Denn die nun verschollene So-Nyo Parks wird 1938 in einem kleinen Dorf in Korea geboren. Als Siebzehnjährige schippert sie in den sicheren Hafen der Ehe mit einem ihr unbekannten, aber dank des kongenialen Horoskops hoffentlich passenden 20-jährigen Mann. Die beiden müssen aufpassen: Es herrscht Krieg, und marodierende Soldaten verschleppen Mädchen ihres Alters.
Sie gebärt fünf Kinder. Einkünfte hat die Familie keine, doch allein mit Mutters Feldarbeit gelingt es, alle zu ernähren und dem Nachwuchs eine Schulbildung zu ermöglichen. Vater hat kein Gespür für die Nöte seiner Frau, hilft ihr nicht, schafft keine Geräte an, die ihr die mühselige Arbeit in Haus und Flur erleichtern könnten. Er lebt sein eigenes Leben.
Jetzt sitzt er allein im Haus, ruft nach ihr wie immer, aber niemand antwortet. Er entdeckt Unerwartetes: Seine Frau hat einen Großteil der Geldzuwendung von der ältesten Tochter Chi-Hon, die eine anerkannte Schriftstellerin geworden ist, an ein Waisenhaus gespendet; mehr als dreißig Jahre lang hat sie ihre letzte Zeit und Kraft den armen elternlosen Wichten geopfert. Doch erhielt sie dort auch etwas für sie Wichtiges: Die Leiterin las ihr Chi-Hons Buch vor.
Hat denn zu Hause niemand bemerkt, dass Mutter nicht lesen kann? Erst jetzt wird Chi-Hon bewusst, dass Mutter sich alle Briefe vorlesen ließ. Und warum weiß niemand, dass Mutter seit langem unter unerträglichen Kopfschmerzen litt? Und wie war das damals, als man Mutter verdächtigte, Vaters Bruder vergiftet zu haben? Welche Nöte sie auch jemals bedrängten - immer war sie allein mit ihnen.
Der nicht näher definierte Erzähler - eins der Kinder? ein Außenstehender? - blickt zurück auf die gemeinsamen Erlebnisse mit der Mutter, als würde ein Fotoalbum aus der Vergangenheit durchgeblättert. Bei bestimmten Szenen rücken einzelne Familienmitglieder in den Fokus, werden intensiv beobachtet und besprochen (z.B. Sohn Hyong-Chol, S. 69-121: "Darüber denkt er jetzt nach", S. 96) oder gar persönlich angesprochen ("Es war das erste Mal, dass du sie Mutter nanntest", S. 49; "Du bist wie vor den Kopf geschlagen", S. 126). Dies sind aber keine Abrechnungen oder Schuldzuweisungen, sondern Versuche, die ereignisreiche Zeit wieder hervorzuholen und zu verstehen, wie Mutter mit Liebe alles gegeben und zugleich zugunsten aller anderen ihre eigenen Bedürfnisse zurückgehalten, sogar ihre Krankheiten unterdrückt hat. Wertschätzung hat Mutter dafür nie erfahren; alle Familienmitglieder haben sie als selbstverständliche Institution der einseitigen Pflichterfüllung betrachtet und benutzt. Jetzt ist der Moment der Besinnung gekommen, und Vater schafft, was er immer versäumt hatte: von seiner Liebe zu ihr zu sprechen.
Ein bisschen Glück brachte der Mutter, wenn sie an den Erfolgen ihrer Kinder partizipieren konnte. Umso enttäuschender für sie, dass ihr Ältester, ein hochintelligenter Junge, sein angestrebtes Berufsziel (Staatsanwalt) nicht erreicht. Er hatte es ihr versprochen, sie hat sich dafür verbogen, doch vergebens.
Im Schlusskapitel des schönen, herben, bisweilen etwas befremdlichen Romans erscheint Mutter selber als kleines Vögelchen in einem Quittenbaum im Garten der Tochter (eine Metapher dafür, dass sie schon in einer anderen Welt ist?). Von dort beobachtet und kommentiert sie das dreifache Mutterglück ihrer zweitältesten Tochter. Allein dieser Phase bleibt die erzählende Ich-Perspektive vorbehalten: Mutter verrät uns Lesern ihr großes Geheimnis, dem sie stets ihre Kraft zum Weiterleben verdankt hat.
Der Übersetzung von Cornelia Holfelder-von der Tann liegt die englischsprachige Ausgabe zu Grunde: "Please Look After Mom" .