Rezension zu »Zu lieben und zu sterben« von Andrea Molesini

Zu lieben und zu sterben

von


Historischer Roman · Piper · · Gebunden · 352 S. · ISBN 9783492055253
Sprache: de · Herkunft: it · Region: Venetien

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Verwerfungen in Kriegszeiten

Rezension vom 11.02.2013 · 3 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Die großbürgerliche Familie Spada bewohnt, als der 1. Weltkrieg ausbricht, eine standesgemäße Villa in Refrontolo (Veneto). Es ist eine weltoffene, aufgeklärte, aber auch kuriose Sippe.

An ihrer Spitze - hierarchisch nicht weniger als hinsichtlich ihrer Spleens - stehen die Großeltern Guglielmo und Nancy.

Patriarch Guglielmo ist ein scharfsichtiger, scharfsinniger und scharfzüngiger Liberaler. Er wettert gegen alles und jedes, insbesondere gegen die Verlogenheit der "Schwarzröcke", die das Geld verteufeln, außer wenn es in Gottes Klingelbeutel landet. Er selbst deklariert sich zum Buddhisten. Sein breites Halbwissen überspielt er souverän durch flotte Sprüche. Seemannslatein ist eine seiner Spezialitäten - wiewohl er nie zur See gereist ist und selbst das Wasser aus dem Waschzuber verabscheut. Seine Nachtmütze legt er nicht vor zehn Uhr ab. Um sich allem häuslichen Stress zu entrücken, zieht er sich gern in sein Studierzimmer, die Denkerklause, zurück, wo er auf einer Schreibmaschine "Beelzebub" an einem Roman tippt, von dem bisher niemand auch nur eine Zeile gelesen hat.

Die 70-jährige Nancy hat einst in London Mathematik studiert und interessiert sich nicht minder für Politik und Geschichte, sympathisiert gar mit den Sozialisten. Die leicht aufbrausende alte Dame, eine wahre paróna (padrona), pflegt eine Sammelleidenschaft besonderer Art: Diverse Klistiere verschiedener Farben und Größen schmücken das Badezimmer. Sie werden nicht nur gern ihrem eigentlichen Zweck zugeführt, sondern dienen bei Bedarf auch als sicherer Hort für den Familienschmuck.

Der Mai 1914 hatte der Familie schweres Unglück gebracht: Beim Untergang der "Empress of Ireland" ertranken Guglielmos Bruder und dessen Sohn mit ihren Ehefrauen. Guglielmo und Nancy nahmen die verwaisten Angehörigen, die Nichte Maria (geb. 1881) und den Enkel Paolo (geb. 1900), bei sich auf. Während sich Nancy um Paolos schulische Weiterbildung kümmert (seine Eltern hatten ihn in ein Dominikaner-Internat abgeschoben), übernimmt die schöne, stolze, willensstarke, immer schwarz gekleidete Donna Maria schon bald die Leitung des Gutes.

Den großen Haushalt führen Köchin Teresa und ihre Tochter Loretta; verwaltet wird das Anwesen von Renato Manca, der seine Stelle erst vor kurzem auf Empfehlung eines befreundeten toskanischen Grafen angetreten hat. Paolo ist dieses hinkende, große Schwergewicht von Anbeginn suspekt. Was hat er zu verbergen, dieser überkorrekte, allzeit präsente, viel zu selbstsichere Mann?

Schließlich ist da noch die exzentrische Giulia, sechs Jahre älter als Paolo. Die Rothaarige, sagt man, sei vom Satan besessen. Wenn sie durchs Dorf geht, bekreuzigen sich die Betschwestern, andere spucken vor ihr auf die Straße. Doch Paolo kann sich ihrem besonderen Reiz nicht entziehen, und sie wird seine Lehrmeisterin.

Dies ist das setting, in dem sich abspielt, was Paolo Spada, der Ich-Erzähler, 1929 rückblickend erzählt. Es sind dramatische Umwälzungen, grauenhafte Kriegsereignisse, sich abwechselnde Eroberer, schmerzliche Verluste, moralische Bewährungsproben, existentielle Entscheidungen.

Mit dem Einmarsch der feindlichen österreichisch-ungarischen Armee im November 1917 hat das beschauliche Leben ein Ende. Hauptmann Korpium requiriert die Villa für sich und achtzehn Soldaten, und die Spada werden in ihrem eigenen Haus zu Gästen des Gegners - ein unerträglicher, demütigender Zustand für die herrschaftliche Familie. Dennoch hält man kultivierten Umgang miteinander aufrecht. Als der Hauptmann einige Soldaten, die Mädchen aus dem Dorf vergewaltigt haben, lediglich an die Front versetzt, anstatt sie hinzurichten, lädt Donna Maria ihn zum Souper, um ihn zu überzeugen, dass eine härtere Bestrafung nötig sei.

Auf die Österreicher folgen die Deutschen. Nun quartiert sich Major Rudolf Freiherr von Feilitzsch mit seinen Männern ein. Der Baron verabscheut Krieg und Gewalt zutiefst, was ihn mit Maria Spada verbindet. Die erwidert zwar seine Sympathie, engagiert sich aber dennoch im Kampf gegen seine Armee. Durch die Stellung der Fensterläden und aufgeleinte Wäschestücke gibt sie dem Piloten eines englischen Doppeldeckers, der mehrmals halsbrecherisch über die Villa hinwegbraust, verschlüsselte Hinweise zu den Truppenbewegungen der Deutschen.

Die Ausnahmesituation des Krieges unterminiert wiederum das formal respektvolle Verhältnis zwischen Standesgleichen. Baron von Feilitzsch bleiben Marias Aktionen nicht verborgen; er warnt sie indirekt, um sie und ihre Familie zu schützen. Doch am Ende zwingen ihn die Umstände, die militärische Pflicht und seine eigenen Versagensängste, ein Exempel zu statuieren: Jetzt müssen Köpfe rollen, selbst die der Aristokratie.

Eindringlich beschreibt der Autor, wie sein Protagonist Paolo in das Räderwerk des menschenverachtenden Geschehens des Krieges hineingezogen wird. All dem Grauen, das über das Dorf hereinbricht, - den Vergewaltigungen, Hinrichtungen, Plünderungen und dem Hunger - kann er zunächst nur machtlos zuschauen. Alle Prinzipien, die ihm in seiner Familie vorgelebt worden waren, scheinen auf einmal außer Kraft gesetzt. Durch Renato und Giulia wird er zum Agierenden, reift in dieser Ausnahmesituation zum Mann. Er macht nicht nur sexuelle Erfahrungen, sondern entschließt sich, für seine Überzeugungen zu kämpfen, und muss dem Tod mehrfach ins Auge sehen. Renato Manca, der Verbindungsmann zu dem englischen Piloten, erkennt in ihm einen vertrauenswürdigen Partner, bindet ihn in die gemeinsame Sache ein und vermacht ihm schließlich symbolträchtig seine Pfeife.

Andrea Molesinis Erstlingsroman "Non tutti i bastardi sono di Vienna" Andrea Molesini: 'Non tutti i bastardi sono di Vienna' bei Amazon, für den der Autor auch auf private Aufzeichnungen der authentischen Maria Spada zurückgreifen konnte ("Diario di un'invasione", Privatdruck 1999), wurde 2011 mit dem bedeutenden Premio Campiello, einem traditionsreichen Literaturpreis der Region Veneto, ausgezeichnet und nun von Petra Kaiser und Barbara Kleiner ins Deutsche übersetzt.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Winter 2012 aufgenommen.


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