Die Anderen
von Laila Lalami
Eine Einwandererfamilie aus Marokko belegt, dass der American Dream Wahrheit werden kann. Trotzdem bleiben sie Amerikaner zweiter Klasse.
Einmal fremd, immer fremd?
Ein tragischer Autounfall ist die Katastrophe, die das vielschichtige Gesellschaftsbild dieses amerikanischen Romans zur Entfaltung bringt. Im Mittelpunkt der Handlung steht die Familie Guerraoui, die 1981 aus Marokko ins ländliche Kalifornien emigrierte, sich vorbildlich eingliederte und dennoch nie ankommen konnte, wie im Rückblick deutlich wird.
Driss Guerraoui wollte sich als junger Atheist und Marxist wie viele seiner Mitstudenten kämpferisch für sein Land engagieren. Doch die Lebensängste seiner Ehefrau Maryam gewannen die Oberhand. Über ihren Bruder in Los Angeles beschafft die gläubige Muslima Einreisevisa für die USA, und sie ziehen in ein kalifornisches Dorf, wo jeder jeden kennt und sie sich sicher hoffen.
Es folgt eine harte, entbehrungsreiche Zeit. Mutig erwirbt der Pragmatiker Driss einen heruntergekommenen Laden und macht daraus im Laufe der Jahrzehnte einen erfolgreichen Diner mit mehreren Angestellten. Als Siebzigjähriger schwärmt er voller Stolz von seinem in Erfüllung gegangenen amerikanischen Traum. Doch der wirtschaftliche Erfolg, die finanzielle Sicherheit haben ihren Preis. Maryam durchleidet eine schwierige Schwangerschaft mit ärztlich verordneter Bettruhe. Unter den mehrfachen Belastungen driftet die Ehe auseinander. Zwei Töchter werden geboren, die sich unterschiedlich entwickeln und für weitere Reibungen sorgen: Salma, die Ältere, durchläuft den von der Mutter gewünschten Karriereweg, wird Zahnärztin, heiratet einen Zahnarzt. Nora hingegen erträgt Maryams ständige Vorhaltungen, sie solle Jura studieren und sich ebenfalls standesgemäß verehelichen, nicht. Sie will sich künstlerisch verwirklichen und sucht ihr Heil in der Großstadt. Aber ihr musikalisches Talent reicht gerade für etwas Musikunterricht, und auch in der Liebe findet sie kein Glück.
Maryam fühlt sich von allen allein gelassen. Schnell hatte sie ihre idealistischen Vorstellungen von Amerika revidieren müssen: »Waffenläden gleich neben Friseursalons … Leute, die anklopfen und über Jesus reden wollen … Talkshows [voller Geständnisse] … Männer sprachen über ihre Affären […], Frauen über ihr Gewicht, über Schönheitsoperationen oder uneheliche Kinder […], Teenager […], wie schrecklich ihre Eltern waren«. Die Sehnsucht nach der aufgegebenen Heimat mit den Verwandten in weiter Ferne war schwer zu ertragen. Von den Ereignissen der Vergangenheit sollten ihre Töchter nie belastet werden, sondern in eine freie und gute Zukunft hineinwachsen. Während Salma zum Vorbild geraten ist, wendet sich Nora unter dem Druck der Mutter eher von ihr ab.
Der Roman setzt ein, als Nora etwa dreißig Jahre alt ist. Ein abendlicher Handyanruf informiert sie, dass ihr Vater einem Autounfall zum Opfer gefallen ist. Wie in Trance fährt sie durch die Nacht zurück in die Kleinstadt. In der dort folgenden Recherche nach den Umständen des Unfalls spürt sie auch ihrer eigenen Vergangenheit nach, und verborgene Geheimnisse und verdrängte Konflikte kommen ans Licht.
Nachdem Driss Guerraoui spät in der Nacht seinen Diner abgeschlossen hatte, wurde er auf dem einsamen Nachhauseweg von einem Auto erfasst, das mit überhöhter Geschwindigkeit heranrast. Der alte Mann bleibt leblos liegen, der Fahrer gibt Gas. Der »tödliche Unfall mit Fahrerflucht« wird Detective Erica Coleman anvertraut, einer Neuen im Team der Polizei und als Farbige eine Außenseiterin. Pflichtbewusst und gründlich geht sie an ihre Arbeit und wertet zunächst die Obduktion und die Lackspuren aus. Doch was fehlt, sind Zeugenaussagen über den nächtlichen Vorgang auf dem schlecht ausgeleuchteten Highway. Der Fall droht ungeklärt zu den Akten gelegt zu werden.
Nora glaubt nicht an einen unglücklichen Zufall, sondern wittert böse Absichten hinter dem Tod ihres Vaters. Obwohl gebürtige Amerikanerin, hat sie schon in der Grundschule Ressentiments gegen nordafrikanische Migranten zu spüren bekommen und weiß, dass sie und ihre Familie allen Anstrengungen und Erfolgen zum Trotz immer Bürger zweiter Klasse geblieben sind.
Beispielsweise hat Nachbar Anderson Baker, Betreiber der direkt angrenzenden Bowlingbahn, es nie verwunden, dass ein dahergelaufener Muslim ihm den alten Diner vor der Nase weggeschnappt und daraus ein gutes Geschäft gemacht hatte. Nun macht er ihm ständig Ärger, mal wegen der Parkplätze, mal wegen einer beleuchteten Reklametafel. Rassismus sitzt tief und setzt sich fort: Bakers Sohn hatte schon in der Highschool keine Hemmungen, auf Noras Spind »Kameltreiber« zu kritzeln. Als Detective Coleman ihn später verhören möchte, sagt er ihr: »Ich rede nicht … mit Scheißniggern.«
Wenngleich sich die Handlung um den Unfall in Donald Trumps Amtszeit zuträgt, fällt nicht einmal sein Name. Denn viel nachhaltiger sind die Charaktere und die Atmosphäre von den Jahren der konservativen Bush-Regierung geprägt. Der Terrorangriff im September 2011 und die darauf folgenden massiven Militäreinsätze in Nahost haben Islamophobie und Kleinstadtrassismus befördert, und selbst Driss’ Lokal wird in Brand gesteckt. Der Täter wird nie gefunden.
Laila Lalami hat diesen Roman erzählerisch interessant gestaltet. Im Vordergrund laufen die polizeilichen Ermittlungen, die schließlich zu einer Festnahme und einer Gerichtsverhandlung führen. Aber in jedem der kurzen Kapitel spricht eine von neun direkt und indirekt involvierten Personen (darunter selbst der tote Vater Driss), so dass wir Leser aus mehreren Perspektiven tiefe Einblicke in die Familiengeschichten und die Mentalität der Menschen erhalten. Keine dieser Figuren ist glücklich, jede hat mit ihren persönlichen Problemen zu kämpfen, alle fühlen sich auf ihre Weise als Verlorene, und so reihen sich viele kleine Geschichten von Einsamkeit, Drogen, Aggressionen, Kriegstraumata, Alkohol, Liebe, Hoffnungen und Enttäuschungen aneinander (einige davon allzu ausschweifend, einige durchaus verzichtbar). Am meisten Gewicht hat Noras Stimme, die anderen Personen kommen erst durch den Unfall ins Spiel.
Der Buchtitel – im Original »The Other Americans« – meint eine prinzipielle Relativierung. Die multiple Perspektivität der Erzählung lässt jede Figur in ihrem Lebensumfeld zur »Anderen« werden. So sind die Guerraouis zwar seit Jahren freundliche, anständige Nachbarn, dennoch erlauben die »Anderen« keine weitere Annäherung als bis zu einem Status von Geduldeten. Auch die Annäherung zu ihnen hin ist nicht leicht möglich, wie die Familie Guerraoui im Verlauf des Gerichtsverfahrens erlebt. Die zwölf Geschworenen gestehen dem Angeklagten (weiß, Vietnamveteran und Familienvater) umstandslos eine Kautionsregelung zu, während »die Brutalität eines Mannes mit Namen Mohammed nur selten in Zweifel gezogen wurde, seine Menschlichkeit dagegen immer erst bewiesen werden musste«.
Laila Lalami wurde 1968 in Rabat geboren, und Migration ist ihr Herzensthema. Ihr Roman »The Moor’s Account« (2014) erzählt die Geschichte des ersten Afrikaners, der Amerika durchquerte, erhielt den American Book Award und den Arab American Book Award und wurde für den Pulitzer-Preis und den Booker Prize nominiert. »The Other Americans« (2019) hat Michaela Grabinger ins Deutsche übersetzt.